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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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festlichen Ereignis verbreitete sich, jedermann hier hielt diese Stunden für bedeutsam und war froh, dabei zu sein. Die Spannung stieg, als der Mann mit dem Aktendeckel sich noch einmal erhob, aufrecht und bescheiden ans Pult schritt, wobei der Professor ein wenig zur Seite trat, dem jungen Mann Platz machend, der ohne Aktendeckel wieder zurückkam. Das alles unter einem Geräusch wie Hagelschlag auf trockenem Holz; Knöchel klopften auf die Bänke, Füße trampelten und scharrten. Ich hatte das einmal in dem Film Die Feuerzangenbowle gesehen und wunderte mich, dass das noch immer so ging.

    »Das ist er«, flüsterte das Mädchen neben mir, wobei ihr Gesicht zu schimmern begann wie das der Großmutter, wenn sie dem Herrn Pastor begegnete. Tatsächlich stand der Professor hinter dem Pult wie der Pastor vorm Altar oder auf der Kanzel: Standbild der Verheißung, Diener des Geistes, Bruder der Diener Gottes. Wo blieben Kerzen, Weihrauch und Orgelspiel? Zuhörer waren wir und Zuschauer, und der Raum vibrierte in der Erwartung des Worts. Doch damit ließ der Professor auf sich warten. Hinter dem Pult, das ihn bis zur Brusthöhe verbarg, kam eine Hand hervor, eine weiße, fleischige Hand, die ein Buch hoch über die hellhäutig funkelnde Kopfwölbung streckte, schüttelte und wieder versenkte. Gespannte Stille, alle Blicke auf des Professors Brustkorb geheftet, bis die Hand, die Schreibhand, die Buchhand, wieder zum Vorschein kam. Diese Hand legte der Professor nun mit gespreizten Fingern links neben den Aufschlag seines bratenfarbenen Sakkos, wie um zu zeigen, dass er aller Buchweisheit zum Trotz das Herz auf dem rechten Fleck habe, ruckte den Oberkörper nach vorn und stieß dabei die Hand von der Brust ab und in die Höh, wo die gespreizten Finger Griffe taten, als gälte es, dort das Gute, Schöne und Wahre zu fangen, das hier in der Luft lag. Zu fangen und zu bergen, denn schon ballte sich die Hand mit ihrer Beute zur Faust, die nun das Gute, Schöne und Wahre triumphierend schwenkte wie vorher das Buch, eine gute und schöne, schöne und wahre, wenngleich unsichtbare Beute, die dann allmählich im Bewusstsein des sicheren Besitzes hinter dem Pultaufsatz in Verwahr genommen wurde.
    Die Stille dröhnte.
    Schön war das, dem Professor zuzusehen, wie er die Faust im stummen Einverständnis mit der Wissenschaft, der Geisteswissenschaft, der Philologie bedächtig und schweigend hin- und herbewegte, wie er die Kunst der Pause zelebrierte, blinzelnd hinter den Brillengläsern, die nun leicht beschlugen, so, dass die weiße Fleischhand nach dem goldenen Bügel griff, die Brille abnahm, einen Augenblick glaubte ich seinem stumpfen, hilflos
schweifenden Blick zu begegnen, ehe er, die Augen zusammengekniffen, nach dem Taschentuch tastete, die Gläser, eines nach dem anderen, behauchte und umständlich putzte, wobei er die Augen geschlossen hielt, wenngleich nicht länger zusammengekniffen. Aus seinen Zügen löste sich die Spannung, die gerunzelte Stirn, seine Augen und Lippen glätteten sich, schön sah er aus, der nicht sehr große, nicht mehr junge, dickliche Mann da hinter dem Pult, Sinnbild dessen, was er gleich verkündigen würde, schön, in Erwartung all des Guten, Schönen und Wahren, das er uns vor Augen führen würde, das schon in seiner Mundhöhle auf den Absprung durch Zähne, Zunge und Lippen lauerte, sich im Sprachzentrum seines Hirns bereithielt; nur die Brille musste er wieder aufsetzen und ein ganz gewöhnlicher Professor werden.
    Erneutes Blinzeln, miteins saß die Brille wieder auf der Nase, mittlere Nase eines Mannes mittleren Alters, der sich nun mit der Zunge über die Unterlippe fuhr, die er vorschob und zu einem triumphierenden, stolzen, beinah wilden Ausdruck formte. Keineswegs gewundert hätte es mich, wären aus seinem Mund nun die ersten Sätze des Alten Testaments gesprungen.
    Tränen pressten mir die Kehle zusammen. Doch Tränen, o nein, sollten mir diesen Augenblick nicht verwischen, nicht einen einzigen Blick auf die Welt sollten sie mir nach der Lichtung je wieder trüben, verwaschen, verwischen. Ich, Hilla Palm, saß in der Aula der Albertus-Magnus-Universität zu Füßen einer Koryphäe seiner Zunft, die auch die meine sein würde. Ich, Hilla Palm, würde diesen stolzen Triumph, diesen glücklichen Ernst, diese Früchte der Wissenschaft in mich hineinnehmen können, stunden-tage-wochenlang, und einmal, das schwor ich mir, würde ich selbst da vorne stehen, hinter dem Pult, und vom Guten,

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