Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Silben der fremden Sprache Gottes. Wie das Lexikon von Friedel mir das Wissen der Welt versprach, wenn auch nur bis 1893, so lockte das Verzeichnis mit Offenbarungen unumstößlicher Erkenntnisse, der WISSENSCHAFT. Groß und fettgedruckt stand das Wort in meinem Inneren. Darunter, bescheidener: Germanistik. Einführungen.
    Einführen würde man mich in das Universum des Geistes. Ins Gotische würde ich eingeführt werden, Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch im Munde führen. Wolframs Parzival kennenlernen und den Engelhard Konrads von Würzburg, den Ackermann aus Böhmen und Meier Helmbrecht. Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuental, Moriz von Craûn und Gottfried von Straßburg würde ich in ihrer Sprache Rede und Antwort stehen. Einführen würde man mich in die Interpretation von Prosa, die Interpretation von Lyrik, die Interpretation von Dramen, jeweils zwei Stunden, jeweils sauber getrennt. Lesen war nicht mehr Lesen allein, Lesen genügte Lesen nicht mehr, Lesen war explizieren, reflektieren, definieren, interpretieren und bedurfte der Einführung durch Professoren, Assistenten, akademische Räte.
    Erst nach einem gehörigen Quantum ordentlicher »Einführungen« war man zur »Übung« herangereift. Übungen, so weit die Dichtung reichte. Übungen zum jungen Goethe und zum mittleren, zum jungen Schiller und zum alten; Thomas Mann, Gottfried Keller, E. T. A. Hoffmann verlangten nach Übungen; die Lyrik des Barock, der Romantik, der Neuzeit von Heine bis zur Moderne - alle wollten geübt sein, nicht minder als das
Erzählwerk Raabes, die Dramatik Hauptmanns, die Lyrik Trakls und des Frühexpressionismus. Der späte Novalis, der frühe Hölderlin, der mittlere Lessing, die Sprache der Bibel, der Mystiker, Romantiker, Pragmatiker, Dogmatiker, Optiker.
    Wer gut übte, durfte vorrücken zur Betrachtung. Betrachtet wurde wie geübt: die Bildlichkeit des frühen Brecht, das Adjektiv im Minnesang, der Zeilensprung bei Hölderlin, in Goethes Faust der Selbstgenuss, das stumme Sein in Kafkas Schloss und Trakls »Dornenbogen«.
    Hatte stud. phil. genügend geübt und betrachtet, wurde er für mündig befunden, sich »Problemen« zu stellen. Probleme, so weit die Weisheit reichte. Insbesondere in der Philosophie, notwendige Basis, so die Studienberatung, für mein Germanistikstudium. Metaphysik und Metaphysikkritik, Hermeneutik, Logik, Ethik, jeglicher Ismus, ob Ideal-, Material-, Nominal-, Rational-, warf Probleme auf. Die ganze Welt musste eingeführt, geübt, betrachtet werden, hatte Probleme, machte oder schaffte welche.
     
    Mit »Hölderlin«, schlicht »Hölderlin«, ohne Einführung, ohne Übung, Betrachtung, Problem, würde ich heute von elf bis dreizehn Uhr in der Aula meine akademische Laufbahn beginnen.
    Aber zuerst noch etwas tun, was ich noch nie getan hatte. Eine Zeitung kaufen. Einfach so. Eine Tageszeitung. Gab es etwas Luxuriöseres als diese bedruckten Blätter? Gültig nur für den Tag, ja, die Stunde. Der Verbrecher, im Druck noch auf der Flucht, im Augenblick des Lesens vielleicht schon gefangen. Das vermisste Kind aufgetaucht oder tot. Schwarz auf weiß und doch schon nur noch war, gewesen; dauernder Schwebezustand zwischen nicht gelogen und doch nicht wahr; die Vergänglichkeit der Fakten, etwas wissen wollen, was morgen schon wieder anders sein kann. Eine Zeitung also, zu nichts nutze als für den heutigen Tag. Inbegriff des Vergessendürfens, Vergessenmüssens, Platz machen für die nächste Ausgabe, Leugnung der Dauer, Dauer allein im Wechsel.

    »Zeitungen gibt’s viele - doch nur einen Kölner Stadt-Anzeiger «, ermutigte mich die Werbung in der Bahnhofshalle. Vergeblich forschte ich nach Anerkennung in den Zügen der Frau an der Kasse, als ich ihr das Blatt zuschob und meine drei Groschen dazu. Die drehte die Kurbel und würdigte mich keines Blickes.
    Auf dem Platz vor dem Bahnhof lagen noch Stapel von Bauholz, Balken, Latten und Gerüststangen, dazwischen pickten wie immer die Tauben, aber die hölzerne Treppe zum Dom konnte schon benutzt werden. Der U-Bahnbau auf der Straße darunter war in vollem Gange. Bis in die Römerzeit hatte man sich zurückgebuddelt; in der Fußgängerhalle beim Andreaskloster lockten Stelltafeln zur Besichtigung der Funde, die man gemacht hatte, wie immer, wenn man in der Kölner Altstadt etwas tiefer schürfte, besonders dort, wo einmal römische Villen standen. Diesmal waren es Sandalenreste und eine komplette Ledersohle, ein Matronenstein und eine

Weitere Kostenlose Bücher