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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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halb.«
    Aber das Abenteuer war ganz und groß, und ich wusste nicht, was ich mehr genoss: einfach Geld auszugeben, für etwas, das nicht nützlich war, bloßes Vergnügen, also Verschwendung, also Verbotenes, oder dass ich allein war mit dem Bruder auf der Piwipp, im Strom, auf dem Rücken von Vater Rhein, glitzernd über Millionen von Wünschen, Wunschsteinen, Willsteinen, sinnvoll alles, als hielte man die Wirklichkeit wie ein Blatt Papier übers Feuer, ins Licht, Wörter in unsichtbarer Tinte treten hervor, und sichtbar wird die geheime Schrift und ihr Sinn. Lapis fidei. Ich umklammerte die Reling, schon einmal hatte ich dieses Schwanken gefühlt, dieses Behagen einer schaukelnden Hängematte, damals, als ich mit dem Vater im Kaufhof Russisch Ei gegessen und Bier getrunken hatte, jeder ein ganzes für sich allein. Wie auf hoher See war das gewesen, zweimal weg von Dondorf und nie wieder zurück.
    »Träumst du?« Bertram gab mir einen liebevollen Rippenstoß.
    Ja, ich war noch da, und was ich sah und hörte, gefiel mir. Fischers Pitter zog die Leine, es bimmelte, Krähen flatterten aus dem Ufergras am Anleger in die Pappeln, die Fähre schlingerte dem Steg entgegen, Möwen schwärmten hinter uns her. Auf der Terrassenmauer, die zum Strom hin steil abfiel, saß eine schwarzweiße Katze in der Sonne. Als das Boot anlegte, blieb sie sitzen, zusammengeknäult, und sah uns regungslos an aus ihren schmalen senkrechten Katzenpupillen, geschlitzte Linsen, zwei scharf gewetzte Krallen im Kopf, die noch vor dem tödlichen Sprung den Feind zerfetzen.
    Der Wirt von Haus Piwipp hatte schon ein paar Stühle herausgestellt; noch lehnten sie zugeklappt an den grünlackierten Tischen. Vor dem weißgestrichenen Gasthof kreiselten erste Mückenschwärme in den abgeblühten Forsythien, Tische und Kies waren vom seidenleichten Gewöll der Pappelsamen bedeckt.
    »Was meinst du, Bertram? Wie wär’s mit ner Cola?«
    »Im Ernst?«, fragte er und pfiff durch die Zähne, normalerweise für die Leistung des Torwarts bei gehaltenem Elfer reserviert.
    Ich war schon auf einen der Tische zugesteuert, Bertram stellte sein Fahrrad in den Ständer. Wann war ich zuletzt mit dem Bruder in einem Lokal gewesen? Allein, ohne Eltern, Onkel oder Tanten? Im Café Haase musste das gewesen sein, wo wir ganze Nachmittage an einer Cola genuckelt hatten, vor dem Fernseher und den Olympischen Spielen; ich in ständiger Erwartung von Sigismund.
    Die Luft war klar; mühelos konnte man auf die Seite gegenüber sehen, den Kiesstrand am anderen Ufer, die Schnur der Pappeln, die Großvaterweide, das Schilf und den gewundenen Pfad hinauf auf den Damm. Dahinter schimmerten das Dach der Reithalle und die blühenden Obstbäume in den Kämpen, und auf dem Kirchberg streiften Sonnenstrahlen den Wetterhahn überm Turm.
    So manche da drüben hatte ich schon verlassen, so viele, die ich noch verlassen würde. Ich tastete nach der Hand des Bruders.
Eine leichte Brise strich durch die Sträucher, fuhr uns durchs Haar. Ich fröstelte.
    »Ist dir kalt?«, fragte Bertram. Ich schüttelte den Kopf und schob den Strohhalm tiefer in die Cola.
    »Aber du hast kalte Hände.«
    »Hab ich doch immer.«
    »Denk an morgen«, sagte Bertram. »Da musst du fit sein. Ich wink schon mal der Fähre.«
    »Mach das.« Ich legte die Mark auf den Tisch und folgte ihm.
    In den Büschen am Ufer hatten sich die Spatzen schon lärmend für die Nacht versammelt. Die Katze war weg.
    »Du, hör mal«, sagte Bertram. Ein Vogel sang, eine kurze Folge harmonischer Doppelnoten, sich beständig wiederholend wie eine Endlosschleife, Möbius-Schleife, höher und höher aufsteigend und in einem abrupten Schnörkel endend. Über dem Wasser stießen die Möwen Schreie aus, die wie ein Abschiedsgruß klangen.
    »Omnia bona sunt. Alles ist gut«, hörte ich mich plötzlich sagen. Ich horchte den Wörtern nach, als hätte eine andere sie gesprochen. Sie sollten recht behalten. Dafür würde ich alles tun.
    Ich fasste nach dem Stein in meiner Hosentasche, dem Willstein. Und bog mir noch einmal Goethe zurecht: Es gibt kein Vergangenes, das man zurückfürchten dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den überwundenen bösen Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muss stets produktiv sein, ein neues Bessres zu schaffen.
    »Lommer jonn«, sagte Bertram, griff in die Luft, rieb sie zwischen den Fingern und lachte mich an: »Eamus!«

    Sie standen am Gartentor und sahen mir nach. Sogar der

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