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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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eifersüchtig bewachte Gesetz durchbrochen. … Das Eis scheint gebrochen zu sein, und nun wird man auch deutsche Opern im Urtext im Radio hören - der Kampf für und gegen Richard Wagner wird nun nicht mehr auf rein nationaler, sondern auf sachlich-musikalischer Basis weitergehen.«

    Ich ließ die Zeitung sinken. Die Vernehmung der Zeugen im Auschwitz-Prozess war abgeschlossen. Das Urteil wurde im August erwartet. Wie lange würde es dauern, bis Deutsch wieder eine Sprache war, die geliebt werden konnte, ohne Wenn und Aber? Es war zwar die Sprache von Goebbels und Heydrich, Himmler und Hitler gewesen. Aber auch die von Walther von der Vogelweide, Gryphius und Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine, der Droste. Und die Sprache derer, die ihren Kampf gegen die Nazis mit dem Leben bezahlt hatten.
    Ein Dampfer tutete von weit her, kam näher, Gischt spritzte, ich raffte die Zeitung zusammen, zog mich hinter einen Quader zurück und reckte den Hals. Auf dem weißen Rumpf des Schiffs in goldenen Buchstaben »St. Goar«. Rauchgekräusel überm Schornstein und den Luken der Kajüte. Der Dampfer schnitt eine breite Schneise, die sich in einem fort glättete und wieder neu aufschäumte, und mir schien, es hafte diesem Schiff auf dem breiten stillen Strom, der den Sand aus der Stadt meines ersten Studientages mit sich führte, eine durch nichts verlorene, durch nichts verlierbare Klarheit an. Eine Klarheit, die nichts jemals hatte trüben können und die durch nichts jemals zu trüben sein würde, nicht durch pathetische Helden und gemischte Ehen, durch Persil-Pakete nicht und nicht durch geklaute Portemonnaies - selbst nicht durch die Nacht auf der Lichtung.
    Bis zur Kurve bei der Rhenania verfolgte ich den Dampfer, dort, das wusste ich, würde er drehen. Sein weißer, glitzernder Gischtbogen grub sich in den Fluss, und ich dachte an die unzähligen Schaumspuren, die alle möglichen Schiffe auf allen möglichen Breitengraden in die Meere der Welt gefurcht hatten, spurlose Spuren.
    Nie war mir das Flüchtige und gleichzeitig Unverrückbare einer Schiffsspur, das Bodenlose und Verlässliche des Wassers so bewusst geworden wie heute, mit all dem gedruckten Durcheinander aus dem Wirrwarr der Welt in der Hand, dem Wortschwall von Tante und Professor in den Ohren. Flut des Wassers, Flut der Stimmen, das Fließende, Unaufhörliche des
Wassers, der Stimmen, der Zeit und das Bestreben der Zeitung, Zeit zu bezeugen, festzuhalten in groß- und kleingedrucktem Nebeneinander.
     
    Ich nahm mir die zweite Abteilung des Stadt-Anzeigers vor: »Quer durch Köln.« Darunter ein großes Photo, halbe Seite. »Noch sechzehn Meter Luft. Zoobrücke erstmals von oben gesehen.« Im Juni, so der Bericht, solle die Brücke ganz geschlossen sein. Dann hätte ich mein erstes Semester fast geschafft.
    Das Übrige war Klatsch. Stadtklatsch. In der Schildergasse wurden Platten für die Fußgängerzone verlegt, es gab ein »Brautpaar der Woche« und einen »roten Hahn auf dem Dach«. Das alles hätte die Tante auch erzählen können. Sogar auf Kölsch. In »Gedanke öm dr nöhkste Sondag« ging es um den weißen Sonntag, die Kinderkummelijon. Nie hatte ich die Sprache meiner Kindheit gedruckt gesehen. Fremd, beinah unheimlich sahen die vertrauten Laute als Buchstaben, als geschriebene Wörter aus. Ich hatte Mühe, in der Nihersch die Näherin, im Kunsäät ein Konzert, im Pattühm einen Patenonkel zu erkennen. Erst als ich die Wörter in den Mund nahm, den Artikel laut las, nickten mir die abenteuerlichen Gesellen wieder zu. Auch diese Seite nahm ich heraus. Die Tante würde sich wundern.
    »Für die Frau« war eine ganze Seite reserviert. Mal sehen, ob für die Mutter etwas dabei war. »Frauenarbeit nicht normal«, so die Hauptüberschrift. »Mütter sollen zu Hause bleiben.« Und zu Hause? Arbeiten Frauen da nicht? Was tat die Mutter denn den ganzen Tag? War Hausarbeit keine »Frauenarbeit«? Jedenfalls keine, die eine »Repräsentativumfrage« des Meinungsforschungsinstituts IFAS interessierte. Zweiundsiebzig Prozent aller Frauen, so das Ergebnis, »halten es nicht für normal, wenn Frauen in Büros und Fabriken arbeiten. Die Frauen gehören ihrer Meinung nach in den Haushalt, besonders, wenn sie verheiratet sind und Kinder haben. … Männer urteilen noch ablehnender als Frauen. 75 Prozent aller verheirateten Männer sind dagegen, dass Frauen einem Beruf nachgehen.« Wunderte mich
nicht. Hanni war heilfroh gewesen, von dr Wääw, der Weberei,

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