Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Geschrei einer Möwenmeute riss mich aus meinen Betrachtungen, was alles ich mit dem Goldpaket bewerkstelligen könnte. Ein Zimmer für mich allein. In Köln. Eine Automat für die Mutter. Ein Fünfgang-Fahrrad für den Bruder. Ein leichter Stoffkoffer für die Großmutter auf der Wallfahrt nach Kevelaer. Eine Dauerleuchte für Großvaters Grab. Ein zweites Vögelchen für Maria. Eine Kreissäge für den Vater. Ein Füllhorn des Glücks würde ich ausgießen über die Meinen und mich. Ich, dat dolle Döppe.
    Die Vögel strichen hinter einem Motorboot her, am Heck eine Frau, die schwungvoll irgendwas in die Luft warf. Die Sonne brannte, und das Glitzern der Wellen blendete. Ich hielt mir die Zeitung dicht vor die Augen: »Absage de Gaulles an
Erhard und Adenauer«, las ich. Darunter klein: »Europa-Konferenz nicht vor Einigung über Verteidigungspolitik.«
    Daneben: »China droht wieder mit Truppen für Vietnam.« Ein Photo zeigte: »Hula-Tanz für deutsche Matrosen.« Schulschiff Deutschland war in Hawaii vor Anker gegangen. Naja. Daneben SED-Chef Ulbricht. »Einhundertsechsundzwanzig Tote seit dem Bau der Mauer.« »UdSSR-Bürger sollen besser leben.« »Zone forderte Auslieferung eines Flüchtlings.« »Gedenkfeier für Juden im Warschauer Ghetto.«
    Die Überschriften enthielten bequem die Botschaft. War es überhaupt nötig, die Artikel noch zu lesen? Buchtitel waren meist nichtssagend, banal; je bedeutender ein Buch, desto beiläufiger der Titel. Krimis und Western hatten die Provokation nötig, Werke der Weltliteratur nie. Faust . Hamlet . Wallenstein. Wilhelm Tell. Anna Karenina . Madame Bovary. Effi Briest . Es waren die Dichter, die den Namen einen Namen machten. Um als Name in der Zeitung zu erscheinen, musste man sich zuvor einen gemacht haben, berühmt sein wie Politiker, Sportler, Künstler, berüchtigt wie Rosemarie Nitribitt oder Vera Brühne, Mörder wie Karl Denke und Fritz Haarmann, Verbrecher wie die von Auschwitz.
    »Politik« auf den ersten Seiten hatte wenig zu bieten, was man nicht am Abend vorher schon in der Tagesschau als Neuigkeit hätte erfahren können. Bis auf das Kleingedruckte, etwa die Meldung unten links, aus Fulda: »Deutsche Bischöfe warnen vor Mischehe.« Ein »pflichtgemäßer Auftrag der Kirchen« sei es, »sich gegen eine Ehe zu wenden, in der die volle Gemeinschaft des Glaubens nicht eine gemeinsame Basis« sei. Ich ließ die Zeitung sinken. Sah mich mit Ferdi im Wartehäuschen bei der Straßenbahn, wo wir auf Hanni gewartet hatten, und ich mit Lessing, Mörike, der Droste sein Herz von Hanni weg und mir zu hatte kehren wollen. Ferdi, dä Evangelische. Zu der Hochzeit mit Hanni war es nie gekommen. Ferdi war verunglückt. Gottesurteil, so die Großmutter. Und auf dem evangelischen Friedhof begraben.

    Oder hier: »Ausbildungsbeihilfe jetzt beantragen.« Je vierzig Mark gab es jetzt monatlich für Bertram und mich, Besucher einer »höheren Schule oder Hochschule«. Ich riss die Seite heraus und steckte sie in die Tasche.
    In einem Sturzflug ließ sich ein Marienkäfer auf der »Hochschule« nieder. Ich streckte ihm meine Fingerkuppen hin, genoss das Kribbeln der winzigen Füße, ihre Liebkosung, arglos, wie das Streicheln von Blättern und Gräsern.
    Der Wirtschaft war eine Doppelseite zugebilligt. Unter der vielversprechenden Überschrift »Börsenphantasie« Wörter aus einer anderen Welt: Industrie-Anleihen und Wandel-Obl. Auslandswerte und NE-Metalle, Investment-Zertifikate, Normwerte, Tagesindex, Devisenkassamarkt, dazu mysteriöse Zahlen, paarweise durch einen Längsstrich getrennt, mal höher, mal niedriger bis auf zwei Stellen hinter dem Komma. Geld-Brief - was sollte das heißen?
    Ich rückte mich auf meinem Stein zurecht. Uwe Seeler noch immer verletzt. Emmerich von Borussia Dortmund verschießt einen Elfer. Die Fußballseite würde ich Bertram geben. Selbst spielte er immer weniger, aber im Fernsehen ließ er kaum ein Treffen aus, und ich schaute gern mit. Auch der Vater hatte ein paarmal dabeigesessen, zog aber Dressur- und Springreiten vor.
    Ich blätterte weiter: »Kultur.« »Jerusalem ehrte einen, der Deutsch spricht. Max Frisch durchbrach ein ungeschriebenes Gesetz.« Nun ja, Frisch war Schweizer. »Alle Sprachen der Welt«, so der israelische Korrespondent, würden in Jerusalem »bei offiziellen Empfängen gesprochen, ausgenommen die deutsche. Jetzt zum ersten Male in der Geschichte der Heiligen Stadt (westlicher Teil) wurde dieses ungeschriebene, doch

Weitere Kostenlose Bücher