Aufbruch - Roman
Tässje Kaffe.«
»Mingetwäje«, erwiderte die Mutter gereizt, und die Großmutter holte die Tasse wieder aus dem Schrank. Aber jetzt war die Kanne wirklich leer.
Die Tante hatte es eilig, der Polizei ihr Anderswo, Minchen Dückers’ Adresse, mitzuteilen, und ich sah zu, dass ich in meinen Stall kam. Flüchtig dachte ich, gern hätte ich mich von der Mutter umarmen lassen oder wenigstens eine der drei Frauen berührt, wie man etwas berührt, um zu sehen, ob es auch wirklich da ist, das Gegenüber oder man selbst, aber ein taubes Klingen im Ohr warnte mich wie eine Drohung. Hinter mir die Stimme der Mutter, schrill und säuerlich.
Ich klemmte den Kölner Stadt-Anzeiger untern Arm und machte mich auf an den Rhein. Gleich würde sich mir das Weltgeschehen offenbaren, der Mensch als Krone der Schöpfung im Hier und Heute, weltweit und aktuell. Von den rotkariert gedeckten Tischen vor dem Gasthaus beim Kirchberg tönte das Brummen tiefer Männerstimmen herüber wie aus einem Bienenstock.
Durch die Wiesen ging mein Weg in die Felder, in der Ferne begrenzt vom lichtumflimmerten Damm, ich atmete tief, atmete die Weite, nahm die Offenheit hinterm Damm in langen Zügen vorweg, füllte die Lungen mit dem vertrauten, sonnenscharfen Geruch von spätem Porree und frühen Rüben und fühlte, wie der Druck von Trübsal und Zaghaftigkeit sich Schritt für Schritt verflüchtigte. Allein beim Anblick von Wiesen und Schilf, Pappeln und Weiden wurde mir zumute wie einem heimwehkranken Kind, das nach Hause zurückkehrt. Ein Kind dieser Luft und dieser Erde in dieser unscheinbaren Ebene. Wie eine Pflanze, die zum Gedeihen nur die eine Luft und nur die eine Erde braucht. Hier war keine Tante, die von einer verlorenen
Tasche sprach wie von einem verlorenen Krieg. Kein Professor, der die Weisheit aus Büchern küsste. Hier sprachen Weiden, Gras und Schilf, erzählten mir die Pappeln mit tausend Frühlingszungen ihre Geschichten. Ihre Zungen gegen die des Professors, der Tante, der Bücher behielten die Oberhand, und die Möwen mit ihrem aufsässigen Geschrei vertrieben die letzten kleinmütigen Grübeleien.
Und dann sah ich ihn endlich, den Rhein, träge, graublau, schimmernd vorbei an Schilf und Weiden und Kieselstrand in die Kurve an der Rhenania strömend, und mein Herz füllte sich mit Mut und Zuversicht.
Ich stapfte durch die Kiesel zu der Kribbe, wo sich im letzten Sommer das tote Schaf verfangen hatte. Keine Spur mehr zu sehen, natürlich nicht; keine Spur mehr zu sehen an mir, natürlich nicht. Viel Wasser war den Rhein hinuntergeflossen. Der Bootsanleger und das Gasthaus Piwipp von gegenüber, wo ich gestern mit dem Bruder eine Cola verprasst hatte, spiegelten sich in einem Netz von Sonnenkringeln wie eine verschlüsselte Nachricht.
Ein Lastkahn mit holländischer Flagge, vier Kähne im Schlepptau, glitt stromabwärts, hatte Kohle geladen und Holz. Die Schiffersfrau, der ein weißer Spitz um die Beine fuhr, schrubbte das Deck. Ich wartete, bis die gischtige Spur hinter dem Zug der Kähne im Rhein verschwunden war, im Wasser nur noch der Abglanz des Himmels und des weißen, rotgedeckten Gasthauses.
Über die Steine der Kribbe balancierte ich hinaus in den Strom, hockte mich auf einen der Quader und rollte die Zeitung auseinander. Kölner Stadt-Anzeiger. Kölnische Zeitung. Unabhängig. Seit 1802. Überparteilich.
Entgegen fiel mir ein DIN-A4-großes Blatt, viermal gefaltet, beidseitig farbig bedruckt. Schwarz brauste mir der Befehl frontal entgegen: »Gewinnen Sie das Goldene«, dann goldfarben: »Persil«, und wieder schwarz: »Paket.« In diesen Zeichen wurde wahrlich das Wort zum Ding, zum goldenen Persil-Paket
auf grünem, weichem Samtkissen mit Kordel. Darauf erhabene goldene Lettern: »Persil 65«, und darunter klein: »die vollkommene Wäschepflege.« Links ein strahlendes Weib mit gen Himmel gestrecktem Arm, die Hand, nein, nicht zur Faust geballt, wer wird denn eine Faust ballen, wo es sie gibt, die vollkommene Wäschepflege, da wird die goldene Unendlichkeit gekitzelt, herausgekitzelt wird im grünen Stempelkreis die Verheißung, verbrieft und versiegelt in feurigem Rot: »Wert 10 000 DM.« Die gewaltige Summe hatte mich so abgelenkt, dass ich die letzte Zeile auf dem Goldpaket, eingebettet ins grüne Moos, fast übersehen hätte: »für alle Waschverfahren.« Urbi et orbi.
Das goldene Persil-Paket! Zehntausend Demark. Ich dachte an den Lottogewinn, knapp dreitausend Mark hatte es damals gegeben, und was hatten
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