Aufbruch - Roman
Flugabwehrraketen in Hanoi«, der »Schlemmerfahrt durchs Frankenland«, der »Spessart-Autobahn«. Doppelseitige, einseitige, halbseitige Schiffchen, fast den ganzen Kölner Stadt-Anzeiger vom ersten Studientag faltete ich zusammen und schickte »Politik« und »Blick in die Zeit«, »Für die Frau« und »Kultur«, »Quer durch Köln« und »Panorama« dä Rhing eraff.
So vertieft war ich in Kniffen, Falzen, Falten, Zusammenklappen, Pressen und Auseinanderziehen, dass ich den Bruder erst bemerkte, als er schon auf den Steinen der Kribbe stand.
»Bertram, du schon wieder? Amo!«
»Amamus! Ich wollt nur mal fragen, wie es denn so war. Die Mama sagt, du bist einfach weg, ohne was zu essen. Hier, von der Oma. Für dich.«
Bertram streckte mir ein knisterndes Päckchen und einen Apfel entgegen. »Ist schon bisschen schrumpelig, aber so sind die jetzt alle. Ist ja schon bald Sommer.«
Heißhungrig wickelte ich das Pergamentpapier auseinander und biss abwechselnd in die Graubrotschnitte, aus der eine dünne Käsescheibe heraushing, und den Apfel. »Das Papier sollst du wieder mitbringen«, sagte Bertram.
»Na klar.«
»Was machst du denn hier?«, entgeistert starrte der Bruder auf die Falterflotte, die ich um mich herum versammelt und mit Steinchen vorm Wegfliegen beschwert hatte.
»Hier, das hab ich für dich aufgehoben.«
»Uwe Seeler … Emmerich … Weiß ich doch längst alles«, Bertram zuckte die Achseln. »War doch gestern schon im Fernsehen.«
»Aber hier das Photo. Kannst du ausschneiden.«
»Also, weißt du! Ich bin doch kein kleines Kind. Bildchen ausschneiden! Und überhaupt, wo hast du denn den Kölner Stadt-Anzeiger her?«
»Gekauft«, sagte ich kurz.
»Gekauft?«, echote der Bruder.
»Ja.«
»Warum das denn?«
Ja, warum eigentlich? Ich wusste es selbst nicht mehr. Erwachsen, sehr erwachsen war ich mir vorgekommen, als ich die drei Groschen auf die Theke gezählt hatte. Was hatte die Zeitung, was das Fernsehen nicht hatte? Ich konnte sie aufheben. Lesen, wann ich wollte. Nachlesen. Anzeigen studieren. Das Kleingedruckte. Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. Und »Das Goldpaket« gewinnen. Das gab es im Fernsehen nicht.
»Has de im Lotto gewonnen?« Der Bruder ließ nicht locker.
Ich tastete nach der Karte für mein Gold-Persil in der Hosentasche.
»Noch nicht«, antwortete ich geheimnisvoll. »Na dann!«
Vorsichtig ließ ich den SED-Chef zu Wasser, er hielt sich gut, wie er mit dem Kopf nach unten bis über die Augen im Wasser auf scharfgeknifftem Papier unverdrossen weiter lächelnd stromabwärts schwamm. Alle Doppeltgefalteten steuerten zielstrebig geradeaus, die Einseitigen legten sich schnell quer, kreiselten träge und hilflos dahin, einige schnüffelten sich im Gefolge der Wellen zurück ans Ufer und verkeilten sich zwischen den Kieseln. Wir fischten sie heraus und schubsten sie wieder in die Strömung.
Seeler, Netzer, Overath faltete Bertram zusammen. »So«, sagte er, »das passt besser«, und schickte den Flieger übern Rhein, wo er in torkelnden Schleifen niederging. Leichter als meine derben Gebilde, ging sein Luftschiff als Erstes unter.
Schweigend sahen wir zu, wie die Schiffchen eine Weile Wasser und Wellen trotzten und sich dann eins nach dem anderen vollsogen, und ich wusste, auch Bertram dachte an den Großvater, wie er uns das Falten beigebracht hatte, aus dem Hütchen ein Schiffchen und wieder zurück. Eine Flotte, den Rhein hinunter, nach Rotterdam und ins Meer. Jedesmal waren wir mitgeschwommen auf der Stimme des Großvaters, der uns die Welt aus Wörtern schuf, unsere Reiselust stillte mit Bildern im Kopf. Hatten wir denn damals nicht gesehen, wie bald sich diese Bezwinger der Meere geschlagen geben mussten, wie trügerisch die schmeichelnden Wellen diese arglosen Papierchen, ausgesetzt von meiner allmächtigen Hand, weg von dem hellen Wasserspiegel am Rand, weg von den glitzernden Kieseln lockten und in die Tiefe sogen? Hatten wir das nie gesehen? Wie hatte der Großvater es geschafft, uns glauben zu machen, die Schiffe kämen bis Rotterdam?
»Und da hat uns der Opa immer erzählt, die Schiffe schwämmen als U-Boote weiter, wenn wir sie nicht mehr sehen, unter Wasser!«, sagte Bertram.
»Sie waren ja auch aus Pergamentpapier. Die gingen nicht so schnell unter«, ergänzte ich.
»Und manchmal sogar aus Silberpapier!«
Bertram kniff die Augen zusammen und spähte aufs Wasser, als könnte er in dem splittrigen Silber der Wellen den Heidenkinderschatz der
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