Aufbruch - Roman
Großmutter entdecken. Doch wo nun ein Schiffchen nach dem anderen zu durchtränktem Zeitungspapier wurde, waren nur Möwen zu sehen, die im Sturzflug auf die dunkelgrauen Knäuel herabstießen und sie mit ihren Schnäbeln zerfetzten.
»Warum bist du denn schon so früh wieder hier?«, fragte Bertram.
»Ausgefallen«, sagte ich, wunderte mich, wie glatt mir die Lüge über die Lippen kam. »Ausgefallen.« Was sollte ich sonst sagen? »Der pathetische Held ist unbedingt«, murmelte ich.
»He?«
»Ach, Bertram, ich hab einfach kein Wort von dem verstanden, was der Professor gesagt hat. Und auf einmal saß ich in der Straßenbahn zum Bahnhof.«
»Aber du fährst doch morgen wieder hin?«
»Was denkst denn du!«
»Trotzdem …« Bertram stockte, druckste herum. »Also: Wie du dich anziehst! So, so …«
»Ja, wie denn?« Ich schaute an mir herunter: schlottrige Hosen, darüber eine zu weite Bluse.
»Also«, platzte der Bruder heraus: »Wie en ahle Möhn! 58 Früher hast du dich doch ganz anders angezogen.«
»Na, hör mal, hast du denn nix anderes im Kopf?« Verlegen, gerührt rettete ich mich in einen forschen Tonfall. »Die Kleider muss ich doch schonen.«
»Kleider?«, echote Bertram. »Du hast doch gar keine mehr.«
»Zu teuer«, beschied ich ihn kurz. »Von der Post kommt ja auch nichts mehr.«
»So kriegst du aber doch nie einen Freund!« Die Stimme des Bruders klang aufrichtig besorgt. Nicht so, wie die der Mutter, die mir meine Blusen nach jeder Wäsche verachtungsvoll präsentierte: »Wenn de weiter so rumläufst, kriechs de nie ene Mann!«
»Freund«, giftete ich, »Freund! Komm mir doch nicht mit so nem Kokolores! Du redest ja schon wie die Mama!«
Ich hob einen Stein auf und warf ihn der sinkenden Flotte hinterher. Daneben. Kurz darauf gingen alle im Strudel der nächsten Kribbe unter.
Abends nahm ich mein Ringheft mit ins Bett.
»Schau mal«, zeigte ich Bertram meine spärlichen Einträge. »Hier: Weißt du, was das heißt? Du kannst doch Griechisch.«
»Polla ta dei na kou den an thro po …?«, buchstabierte Bertram. »Hast du eine Klaue.«
»Ja, oder so ähnlich. Hab doch gesagt, ich hab nix verstanden.«
»Hast Glück«, sagte Bertram. »Hatten wir gerade. Ein ganz berühmter Spruch. Sophokles. Antigone. ›Viel Gewaltiges gibt es auf Erden, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch.‹ ›Polla‹ kann in zwei Richtungen gedeutet werden, kann ›wunderbar‹ meinen oder ›furchterregend‹, denn die Griechen …«
Ich schlüpfte zurück in mein Bett. Wie ich diese kleinen Vorträge des Bruders liebte!
Überhaupt keine Lust, in den Bus zu steigen, in den Zug zu steigen, der Wissenschaft entgegen, hatte ich am nächsten Morgen. Schon aufzustehen musste ich mich zwingen, Mutter und Großmutter ins Gesicht zu sehen und so zu tun, als könne ich es gar nicht erwarten, fortzukommen von der Kaffeetasse auf dem Wachstuchtisch, dem Marmeladenbrötchen unter Öllämpchen und Kruzifix. In den Holzstall wäre ich am liebsten gegangen, zu den Blumen und Steinen und ihren Geschichten, oder an den Rhein, den allwissenden Schweiger. Lieber sogar als in Bus und Zug hätte ich meinen Weg zu Maternus genommen, mich ans Fließband gesetzt, den Kopf vom Körper getrennt und den Tag verträumt. Nein, ich hatte keine Lust, aus dem Haus zu gehen; keine Lust, der Mutter, die sich immer vernehmlicher die Nase putzte und immer unverhohlener auf die Küchenuhr sah, aus den Augen zu kommen. Ich hatte Angst. Und durfte mir das nicht eingestehen. Nicht einmal denken durfte ich das Wort für diesen Klumpen im Magen, der sich mit jedem Blick der Mutter verstärkte; anwuchs, je näher ich dem Gedanken an DAS STUDIUM rückte, diesem Gewirr aus Professorenwort, Bohnerwachs-, und Essensgerüchen, diesem Ansturm der Altersgenossen, die alle wussten, was sie hier zu suchen hatten. Hatte
ich wirklich erst gestern Triumphgefühle ausgekostet beim Anblick des Wortes Student? Unter den Augen der Mutter, der Großmutter, mit Blick auf das Vertiko, den gerahmten Antonius und die gestickte Bordüre über dem Herd »An Gottes Segen ist alles gelegen« kam mir das vor, als hätte ich gestern nicht nur das Wort, sondern auch das Gefühl und die Person, die dieses Gefühl hatte, nur gelesen.
»Kenk, et wird Zeit. Dä Bus wartet nit.« Fast besorgt klang die Stimme der Mutter, aber auch Ungeduld schwang mit. Sobald ich aus dem Haus war, würde sie das kleine Radio einschalten, das seit ein paar Monaten unter dem Kruzifix
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