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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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wegzukommen. Verheiratete Frauen wollten nicht, sie mussten arbeiten gehen. Untrüglicher offenbarer Makel: Der Mann brachte nicht genug nach Haus.
    Empört las ich den zweiten Beitrag: »Ohrfeigen statt Samthandschuhe.« Nicht lange »fackeln«, empfahl der Schreiber, eine »gehörige Tracht Prügel« gehöre zur »breiten Gefühlsskala« einer guten Mutter. Ich zerknüllte das Blatt, streckte mich, kickte einen Stein von den Kribben ins Wasser.
    Ich sah auf die Uhr, Godehards Uhr. Nur noch selten dachte ich an ihn, wenn ich auf den Ziffernkreis an meinem Handgelenk blickte. Die Uhr ein Gegenstand, dessen Geschichte sich immer weiter verflüchtigte. Gebrauchsgegenstand.
    Gut eine Stunde war ich nun schon mit der Zeitung beschäftigt. Seitenweise Werbung: »Pack dä Köbes in den Kühlschrank«; Kleinanzeigen: Ankauf, Verkauf, vom Kinderklavier übern Zimmerspringbrunnen bis zur deutschen Dogge. Mietgesuche, Angebote. Möblierte Zimmer. Auch diese Seite würde ich aufheben.
    Vorwärts also mit »Reisen und Wandern«. »An Daum sich binden - Wohlbefinden!«, »Ihr Herz wird jung - durch Ausspannung!« »Reisen - Erleben - Vorwärtsstreben«. Der Hauptartikel: »Handfestes Frühstück spart eine Mahlzeit.« Holland versuchte bei deutschen Touristen mit kleinen Preisen und großen Portionen verlorenes Terrain wiedergutzumachen, besonders mit den »Eethuisjes«, Esshäuschen, wo es »unerhört üppig belegte, daunenweiche Weißbrötchen gibt«. Ob das die Tante mit de Käsköpp versöhnen könnte? Kokolores, nix wie heuchele, würde sie höhnen.
    Blieb die letzte Seite: »Panorama.« Fettgedruckt, ins Auge springend: »Damenbesuch soll erlaubt werden. Studenten gehen gegen Wirtinnen vor. Tübinger AStA strebt Musterprozess an.« »Die Sittlichkeit, auf die viele Zimmerwirtinnen bedacht sind, wird von den zur Untermiete wohnenden Studenten als sittenwidrig angesehen.« Daher solle aus den Mietverträgen der
Passus »Damenbesuch nicht erlaubt« gestrichen werden. Einverstanden, so der Sprecher des AStA, seien die Studenten mit einer zeitlichen Begrenzung. Zapfenstreich: zweiundzwanzig Uhr. Luxusprobleme, die mich kaltließen. Nicht aber das eine Wort: »Studenten.« Hier, als ich das Wort in der Zeitung las, begriff ich mit einem Mal die ganze ungeheuerliche Tatsache: Ich war eine Studentin. Studentin: nicht länger ein Wort wie Baum oder Strauch oder Küchentisch. Vielmehr ein Wort, das zu mir gehörte wie mein Name. Dat Kenk vun nem Prolete war eine Studentin. Ein Wort wie Abitur, ein Wort aus dem Jenseits der Vorstellungen, die die Altstraße 2 mir mitgegeben hatte. Ich hatte mir das Wort aus dem Jenseits geholt, vom Himmel gerissen, war auf den Baum gestiegen, der in den Himmel wächst, jedenfalls ein Stück weit, und nun würde ich hineinwachsen in das Wort, das neue Wort, bis es reif war, und ich es würde abstreifen können und nach einem nächsten greifen. Studienrätin? Bibliothekarin? Doch dieser Gedanke durchkreuzte mich nur flüchtig. Die Freude über mein neues Sein in diesem neuen Wort war mir genug. Was war noch alles möglich? Alles war möglich. Alles Mögliche.
     
    Ich war durch. Die Welt von Köln aus gesehen an meinem ersten Studientag, zusammengetragen auf zweiunddreißig Zeitungsseiten. Für die Mutter war nichts dabei. Nichts so interessant wie ein »Nimm mich mit«-Heftchen, gratis jede Woche in Piepers Laden mit so praktischen Ratschlägen wie: »Vermengen Sie Zucker mit Petroleum. Streuen Sie dies an den befallenen Stellen aus, und zünden Sie es an. Das überlebt keine Ameise.« Rudis Rasen aber auch nicht. Die Tante hatte den Bewuchs mit dieser Mischung bis in die Wurzeln ruiniert.
    Ich strich über das bedruckte Blatt. So ganz anders war dieses Wissen als das des Professors. Seine Wissenschaft wollte Dauer, Zusammenhang, Unumstößlichkeit. Die Zeitung servierte stückweise, tagweise Happen. Gültig nur für den Augenblick. Das war das Geheimnis der Zeitung: ihre Zeit, jeden Tag neu.
    Wollte man im Dorf klarmachen, dass nichts Bestand hat, sagte man: Dat jeht doch alles dä Rhing eraff. 57 Pantha rhei. Dä Rhing eraff würde ich die Zeitung heute am ersten Studientag schicken und sehen, was davon übrigblieb.
    So, wie ich es vom Großvater gelernt hatte, kniffte ich ein Blatt nach dem anderen vom Spitzhut zum Schiffchen. Dä Rhing eraff würde es für de Gaulle, Erhard und Adenauer gehen, Deutsche und Franzosen in einem Boot. Ins Wasser mit den »Abschussbasen für sowjetische

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