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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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nicht lesen, »habe Dich nicht gesehen. Was machst Du heute Nachmittag, und wo warst Du bei dem Regen?! Herbert.«
    Der Stift in meiner Hand stockte, die Hand hielt sich fest an der »Frage nach dem Kunstcharakter des Gedichtes als Gestalt und Gegenstand«. Mit der vollen Wucht des wirklichen Lebens spülte dieses Zettelchen, dieser Schnappschuss des Lebens, die blutarme gelehrte Mühsal um zentrale Prämissen, dogmatische Endlichkeit und den Traum vom ultimativen Kommentar aus meinem Kopf und die Sehnsucht nach Sehnsucht ins Herz, die Sehnsucht nach allem, was es gratis gab und für alle, das Leben draußen vor der Tür, außerhalb meiner Hirnverschalung. Wie ein Schlag traf mich der Zettel, dieser Splitter aus einem fremden wirklichen Leben. Zwei Namen nur, der eines Mannes und der einer Frau, er wartete im Regen auf sie, hatte sie sogar im - verflixt, warum konnte ich dieses Wort nicht lesen? Ich rätselte,
tüftelte, es war wie im Traum, wenn man die lebenswichtige Botschaft nicht entschlüsseln kann, so saß ich vor dem Zettel, dem Wort, von dem mit Gewissheit nur der letzte Buchstabe, ein ß, feststand, -schloß könnte es heißen oder -schluß. Zwei Namen, ein wartender Mann, Regen. Ein unleserliches Wort. Das war alles. Ein Text ohne mich. Das Leben ohne mich. Vor einem Text wie diesem war ich wehrlos.
     
    Hatte ich gestöhnt? »Ist Ihnen nicht gut?«, flüsterte mein Lesenachbar und brachte mich wieder zu mir. Das Buch war mir verleidet, ich entfernte es aus meinem Apparat und entschied mich für einen frühen Zug nach Hause.
    Noch auf dem Weg zum Bahnhof ließen mich Herbert und Lieselotte nicht los. Warum, ja, warum hatte Lieselotte Herbert im Regen warten lassen? So viel wichtiger war mir das als die literarhistorischen Aspekte von Parzivals Schweigen, die Bauformen geistlicher Dramen des späten Mittelalters. Ob es doch nicht so weit her war mit meiner Berufung zur Jüngerin der Wissenschaft?
    Aber es gab, besonders wenn ich die Philosophen las, auch diesen kalten Jubel im Kopf, als höbe sich das Begreifen leicht und frei wie in einem Ballon aus der Hirnschale hinaus; das Wissen stieg mir in den Kopf wie ein leichter Wein, die Wörter waren DAS WORT, die Sätze, Fittiche, schwangen mich über weite Ebenen hoch ins Gebirge der reinen Vernunft. Mit leichter Hand und klarem Verstand balancierte ich das Universum, jonglierte ich Himmel und Erde. Je abstrakter die Sätze, desto unbegrenzter ihre Fähigkeit, mich aus der Gegenwart zu lösen, hineinzutragen in eine Sphäre außerhalb von Raum und Zeit, wo die Gedanken wirklich frei waren, frei von den Bedingungen der Körperwelt, und ich berauschte mich an Einsichten, durch nichts bedingt, immer und überall gültig, wie sie mich glauben machten. Gedanken, gut und wahr wie Dichtung. Dann schienen sie mir auch schön. So, wie ich es bei Rebmann und bei Sokrates gelernt hatte.

    Ermüdet musste ich irgendwann von den Betäubungen ablassen und erneut so tun, als wäre ich da, ein Ich da, eine Hilla Palm, die hören, sehen, riechen, schmecken konnte, fühlen womöglich.
    Jede Fahrt von Köln nach Dondorf machte aus der Studentin wieder dat Kenk vun nem Prolete. Näherte ich mich der Altstraße 2, wechselte ich die Sprache. Nicht nur die Aussprache machte ich der meiner Familie wieder ähnlich. Sagte isch und misch und dat und wat, sobald sich die Küchentür hinter mir schloss; nur auf den Singsang verzichtete ich. Versuchte Nähe. Auch die Einstellung zum Sprechen selbst war in der Altstraße 2 eine andere als in meinem Kölner Leben. Sprechen war Schreien, besonders in der Erregung. Das Sprechen selbst schien diese Erregung zu erzeugen. Also wechselte ich nicht nur die Aussprache, auch die Lautstärke änderte ich.
    Nur mit dem Bruder glaubte ich, meine Stimme aufrichtig zu gebrauchen, zu gebrauchen, wie sie wirklich war. Aber wie war sie denn wirklich wahr? Zu welcher Stimme gehörte ich? Wo gehörte ich hin?
    Dondorfer Küche und Kölner Unibibliothek gingen tollkühne Allianzen ein. Trat ich durch die Küchentür, wies das ausdruckshafte Sprechen noch immer ganz auf das Personsein des Menschen zurück, während die Tante ihre schweißige Hand auf das Wachstuch klatschte, um allein von der inneren Selbstgewissheit aus alle objektiven Ordnungen zu bewältigen.
    Die Tassen klirrten.
    »Berta!«, schrie die Großmutter. »Pass ob dat Melschkännsche op! Du brängs jo alles durschenander!«
    »Wo komms de denn her?«, fragte die Mutter geistesabwesend - Was ist

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