Aufbruch - Roman
Regelwerk, das alle zu kennen und zu respektieren schienen, in dem alle ihren Platz hatten, nur ich nicht. Ich war zu kämpfen gewohnt; jetzt wusste ich nicht mehr, wogegen. Und nicht mehr, wofür.
Ich setzte mich in meinen Stall und tat nichts. Sah auf meine gefalteten Hände und sagte mir: »Ich bin da.« Saß da und murmelte: »Hier bin ich.« Eine Tatsache, von der nichts abgeleitet werden konnte. »Hier bin ich«, in endloser Wiederholung, bis mich ein Gefühl innerer Betäubung von mir erlöste.
Abends war ich froh, wieder einen Tag überstanden zu haben, sank ins Bett, täuschte Schlaf vor und wartete auf den Bruder. Wann immer Bertram es brauchte, fand er Zuflucht in der Unschuldswelt des Schlafes, in die er wie ein Kind leicht und sanft hinüberglitt. Ich schloss die Augen und klammerte mich an seine Atemzüge, ahmte sie nach und wartete auf das weite, leere, freie Land des Schlafes.
Immer stärker fühlte ich meine Einsamkeit, meine Fremdheit als körperliche Erschöpfung. Die Empfindung der Unwirklichkeit, einer verschwommenen Wahrnehmung erzeugte in mir einen Schwindel, dem schließlich auch mein Körper nachgab.
Mit Blaulicht und Sirene brachte mich der Malteser Hilfsdienst in der letzten Woche des Semesters nach Hause. An der Großenfelder Bushaltestelle hatten sie mich aufgelesen. »Umgefallen. Aus heiterem Himmel«, wie die Fahrgäste aufgeregt versicherten.
»Das Hin- und Herfahren wird dem Mädchen zu viel«, entschied Mickel. Hin und Her. Damit kam er der Wahrheit sehr nah. »Das junge Fräulein braucht ein Zimmer in Köln.«
Das aber gab es nicht auf Rezept.
Sonntags beim Mittagessen kamen der Vater, die Mutter, die Großmutter, der Bruder und ich dem Bild einer Familie am nächsten. Wir waren beim Nachtisch, als ich mit Mickels Diagnose herausrückte. Bertram hatte mich endlich dazu ermutigt.
»Ich will nen Kauhauboii als Mann«, plärrte es aus dem Radio in die sprachlose Runde. Der Vater senkte den Kopf noch tiefer über das Apfelkompott. Die Großmutter ließ den Löffel fallen und bückte sich nicht danach.
Die Mutter machte ein Geräusch, als verletze etwas sie in der Kehle. »En Wohnung en Kölle? Un wer soll dat bezahle?«
Die Mutter sah den Vater an wie früher, wenn sie ihm von einer Missetat berichtet hatte. Diesen Blick, der die Stellung des Vaters als Familienoberhaupt ohne Wenn und Aber anerkannte, zeigte die Mutter nur noch selten.
Der Vater war nicht mehr der Alte. Immer rücksichtsloser klapperte ihn die Großmutter morgens, bevor sie um fünf zur Messe im Kapellchen aufbrach, mit den Herdringen aus dem Schlaf, und die Scheiben, die ihm die Mutter sonntags vom Braten schnitt, wurden dünner. Er, der früher den Fisch aus der Dose, Hering in Tomatenmark, ganz für sich allein bekommen hatte, während wir den Soßenrest im Kartoffelbrei verrührten, beschwerte sich nicht, schien es kaum zu bemerken. Die Schwäche des Vaters stärkte die beiden Frauen. Ich hatte daran keine Freude.
»Für Auswärtsstudierende gibt es siebzig Mark mehr. Zum Wohnen.« Auch ich sah den Vater an. Der fixierte das Kofferradio unterm Kruzifix.
»Chinchin, chinchin, chinchin chilu, ich finde das Glück und die Liiebe dazu«, tirilierte eine Frauenstimme.
»Mach doch ens ener dat Radio us«, brummte der Vater.
Bevor der Vater zu kränkeln anfing, hatte die Mutter, sobald er hereinkam, das Radio abgedreht, nachdem er einmal so heftig die Aus-Taste gedrückt hatte, dass der kleine Apparat beinah vom Brettchen gekippt wäre.
Jetzt zuckte sie nur die Schultern und blieb sitzen. Ich sprang auf und schaltete ab.
»Alleen en Kölle! Sone Jroßstadt: Dat es Sodom und Jomorrha«, räsonierte die Großmutter.
»Aber dat Hilla is doch vernünftig genug!« Sogar Bertram war sitzen geblieben. So wie ich, stürzte er meist nach dem letzten Happen davon. Um zwei war Anpfiff.
»Und dann«, ich spürte Bertrams Fuß auf meinem, »wohnt doch da auch der Kardinal!«
Der Vater warf den Löffel in die Kompottschale und stemmte sich mit beiden Händen von der Tischplatte hoch.
»Josäff!«, empörte sich die Mutter, und der Vater ließ sich auf den Stuhl zurückfallen. »Nun sach doch auch mal wat!«
Wie oft hatte ich diesen Satz in meiner Kindheit gehört. Ängstlich, verärgert, empört, meist eine Mischung, in der die Angst den Ton angab. Die war nun ganz aus der Stimme der Mutter verschwunden.
Der Vater schob den Stuhl zurück und knurrte, ohne einen der Anwesenden eines Blickes zu würdigen: »Waröm
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