Aufbruch - Roman
um das Geheimnis eines Textes zu feiern, ging es, nicht darum, den »göttlichen Funken« zu spüren, den ein Buch in uns entzünden kann, sondern um die Beschaffenheit des Brennholzes und wie es am besten zu spleißen sei. Ich trieb der Dichtung die Seele aus, bis sie mir nichts mehr anhaben konnte.
Es war mir recht. Der Ersatz hochwillkommen. Ich las über. So, wie man Kochbücher liest über die Zubereitung von Essen, las ich Bücher über die Zubereitung von Dichtung und vergaß darüber, nein, nicht zu essen, zu lesen, dazu wurde man ja durch den Küchenmeister Professor gezwungen, aber mich zu nähren und zu genießen verlernte ich. Das Besteck wichtiger als das Essen, die Zutaten wichtiger als das Gericht; als säße man bei einem köstlichen Mahl und müsste bei jedem Bissen über Bestandteile und Zubereitungsweise Rapport erteilen. Wissen über Dichtung ersetzte die Erfahrung mit der Dichtung. Ich stopfte mich mit Wissen voll. Vielfraß, Allesfresser. So, wie ich vor der Nacht auf der Lichtung die Dichter verschlungen hatte, verschlang ich jetzt die Bücher der Dichterdeuter. Umgab mich mit Wissen, Wissen als Panzer gegen das Fühlen. Wissenschaft machte mich zu Verstand.
Vor dem Abend auf der Lichtung war ich, was immer ich las, Leserin meiner selbst gewesen. Immer schwang die Frage mit: Was sagt das Buch mir? Und mitunter war mir das Gesagte so nah, oder eine Metapher sprach so vertraut aus meinem Herzen, als hätte ich dieses Buch, dieses Gedicht selbst geschrieben.
Nun wurde ich zum Leser des anderen. Aus Liebe wurde Achtung, Respekt. Mit der Hochachtung wuchs die Distanz. Bücher waren nicht mehr dazu da, mich gut und glücklich zu machen, sondern gelehrt. Je mehr ich über Dichter und Werke erfuhr, desto ferner rückten sie mir. Das Buch, mein Gegen und Über. Nicht die Bücher redeten zu mir. Ich redete über Bücher. Nicht sich selbst näherkommen, sondern dem Buch. Nicht über sich nachdenken, sondern über die Bücher. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Philologie: Das war Reden in Büchern über Bücher, die sich mit Büchern befassten. So weit entfernt von meinem Leben wie möglich. Dem Leben aus dem Weg gehen. Ich hatte wieder einen Zufluchtsort gefunden: die Wissenschaft, ihr Streben nach folgenloser Eindeutigkeit. Ich hatte wieder etwas, woran ich glauben konnte, nicht Gottes, aber doch des Geistes Wort, nicht die Kirche wollte ich hören, sondern die
Wissenschaft, des Geistes Wissenschaft. Hier gab es keine Sätze mehr, die sangen, melodisch schillerten, Wörter, die sich drehen und wenden ließen wie Steinchen im Kaleidoskop. Dichtung war dazu da, um ihr das Geheimnis zu entreißen. Texte waren dazu da, um ihr Programm aufzuspüren, Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Ordnungen, Funktion und Struktur. Und über allem schlug der hermeneutische Zirkel seinen Heiligen-Geist-Schein, kein noch so kleines unscheinbares Silblein konnte sich seinem allwissenden Blick entziehen, einfügen musste es sich ins große Ganze, wollte es nicht ausgestoßen werden, unwerter Minderling, hinaus aus dem Reich der Seligen, Ordnungsseligen, ins vor-metrische, vor-strukturelle Chaos. Ins Nichts. Anzukämpfen gegen dieses Nichts: Das war Geisteswissenschaft.
Gehorsam wie früher dem lieben Gott folgte ich ihren Geboten. Erstes und oberstes Gebot: Du sollst nicht lieben. Zweites Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Drittes: Du sollst das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Das Kluge vom Dummen. Viertes: Du sollst Quellen und Texte ehren, auf dass sie dir ewig neue Interpretationen gewähren.
Mein Ringbuch füllte sich mit Notizen, die jetzt Exzerpte hießen. Das Ausgewählte. Verba ex orationibus. Nomina ex tabulis. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Exzerpte: die adlige Verwandtschaft der Notizen. Vergaß man beim Exzerpieren auch nur ein Komma, ein i-Tüpfelchen, degenerierte das Exzerpt zur Notiz. Nur Buchstabentreue erhob das Exzerpt in den Adelsstand des Zitats. Ein falsches Wort, und die Quelle war verschmutzt, unbrauchbar. Verschmutzte Quellen zu zitieren war schlimm. Nur eines war noch schlimmer: in Büchern, die einem nicht gehörten, zu unterstreichen oder an den Rändern zu kommentieren. Dafür war das Ringbuch da.
Und dann war mein Ringbuch weg. Ich merkte es erst am Abend, einem Freitagabend, als ich im Holzstall meine Tasche auspackte. Wo ich es liegen gelassen hatte, wusste ich gleich. Im Eichendorff-Seminar. Im Seminar des N.N., des nomen nominandum,
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