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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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der Mensch? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? - und spingste in den Korb, den die Tante neben sich abgestellt hatte. Wo uns eine eigenständige Formenwelt begegnet, stehen wir in der Gegenwart des lebendig Menschlichen.
    Die Tante war vom Friedhof gekommen und hatte eine gesprungene Vase, eine Harke und ein Säckchen Zwiebeln bei sich.

    »Wo has de denn die Zwibbele her?« Die Mutter streckte die Hand aus, um die Knollen auf ihre Festigkeit zu prüfen. Alles beginnt mit einer Untersuchung dessen, was die Sprache leistet, und kommt damit zu Einsichten, die weit über die Grenzen der Aufklärung hinaus wirken und umstürzend wirken.
    »Pass doch op! Du kipps dä Korv jo öm!«
    Die Mutter zuckte zurück und kniff die Lippen zusammen. Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache. Denken und Sprache ringen ständig miteinander.
    »Die Zwibbele han isch vun dem Krapps Mariesche. Dat wees nit mi, wohin domet. Ich kann jern wat hierlasse.« Bei den praktischen Bemühungen kann von mancherlei Seite Hilfe kommen. Doch es ist gut, sich gegenüber den Selbstdeutungen der Verfasser mit einigem Misstrauen zu wappnen.
    »Nä, wat soll isch denn mit so viel Zwibbele. Die hammer sälver em Jade.« Die Mutter schürzte verächtlich die Lippen. »Wofür brauchste denn so viel Zwibbele?« Das Motiv ist das Schema einer konkreten Situation; das Thema ist abstrakt und bezeichnet als Begriff den ideellen Bereich, dem sich das Werk zuordnen lässt.
    »Ja hürens, die reinijen doch dat Blut!« Die Tante zog den Korb ein Stück näher zu sich, als wolle man ihr die kostbare Medizin entwenden. Es kommt darauf an, ungedachte Dinge zu denken und ungesagte Worte zu sprechen.
    »Jo, un dann stinks de wie die Ruppersteger Tant«, parierte die Mutter und hielt sich kichernd die Nase zu. Oftmals legen sich mehrere Erlebnisschichten übereinander. Zwei Gestaltungen desselben Motivs, doch die Unterschiede springen in die Augen.
    »Auch wenn de Fieber has, helfen de Zwibbele. Unger de Föß muss man se binde«, steuerte nun auch die Großmutter ihre Erfahrung bei. Die Frage nach der Gegenständlichkeit lenkt zweckmäßig auf die andere: was denn eigentlich erlebt wird.
    Die Stimmen aus der Dondorfer Küche und die Stimmen aus den Hörsälen der Albertus-Magnus-Universität: Zweiklang ohne Melodie.

    Weder in der Altstraße noch im Hörsaal fühlte ich mich »normal«. Saß ich am Tisch mit den Eltern, skandierte mein Kopf: Ich sitze am Tisch mit den Eltern. Schon hebt der Vater die Gabel zum Munde. Die Mutter schneidet das Fleisch, und die Großmutter rührt das Kompott. Trommelte ich mit den Knöcheln Beifall auf die Bank in der Aula, murmelte es in mir: Jetzt trommele ich auf die Bank in der Aula Beifall, trommele mit dem Knöchel des mittleren Fingers der Linken, trommle wie alle trommeln, trommele weiter, bis keiner mehr trommelt, ich trommle und trommle, trommelte ich mit den Knöcheln Beifall auf die Bank vor mir, während ich die Einkerbungen studierte, »carpe diem« - nutze den Tag, stand da, viele Stifte hatten dem Nachdruck verliehen. Einer hatte ergänzt: »Et respice consequentiam« - und bedenke die Konsequenzen.
    Ich war Beobachterin und Mitspielerin zugleich; Agierende und Achtgebende in einer Person. Nichts verstand sich, nichts verstand ich von selbst. Nicht einmal die Routine. Schlimmer: gerade die nicht. Dankbar war ich, wenn etwas Außergewöhnliches geschah, das auch die anderen aus ihren Gewohnheiten riss; dann fühlte ich mich ihnen näher. So, als gegenüber in der Gärtnerei bei Schönenbachs eines der drei Treibhäuser brannte, kurz bevor das herrschaftliche Wohnhaus mit seinen Geheimnissen einem Hochhaus weichen musste; Wohnungen für vierhundert Menschen statt Komposthaufen, Setzlingen, Geranien und Grabgebinden.
    Liebte ich deswegen Rituale, die von vornherein für alle Teilnehmer die Rollen festlegten, bis in die Sprache hinein? War ich deswegen als Kind so gern in die Kirche, vor allem in die Messe, gegangen, weil ich dort nicht allein war und alles für alle schon vor-geschrieben? War auch das Teil meiner Liebe zu Büchern, dass dort von Anbeginn alles schon Vor-Schrift war? Dass ich dort, unabhängig von jedwedem Inhalt, eine Struktur fand, die meinem Leben fehlte?
    Auch in der Schule hatte es feste Abläufe gegeben, ein Regelwerk, in das ich mich einfügen musste, und was mir fremd war,
konnte ich den anderen abgucken. An der Uni war ich außerhalb der Seminarstunden mir selbst

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