Aufbruch - Roman
überlassen. Besonders die Pausen zwischen den Seminaren und Vorlesungen, zu kurz für die Bibliothek, galt es zu bestehen. Ich hatte Angst vor Begegnungen. Vor allem und jedem.
Schon wenn mich Mitstudenten ansprachen, und sei es nur, um eine Uhrzeit zu erfahren, wies ich sie so schroff zurück, dass es zu einem Gespräch gar nicht kommen konnte. Einmal tippte mir einer aus dem Eichendorff-Seminar von hinten auf die Schulter. Ein dünner Junge mit einem gutmütig-käsigen Gesicht hielt mir unsicher lächelnd ein Papier entgegen, sagte, das sei aus meinem Ringbuch gefallen. »Darf ich Sie zu einer Cola einladen?«, las ich und wollte lächeln, mich bedanken, ja, wollte ich sagen, ja, eine Cola, warum keine Cola trinken, so, wie alle anderen, so, wie damals mit Dirk und davor mit Godehard oder mit Bertram, eine Cola trinken, einfach so, ohne Schluckauf. Danke, wollte ich sagen, ja, gern. An den Worten würgend stand ich vor dem Jungen, der mich entgeistert anstarrte, die Hand ausstreckte, wohl um mir auf den Rücken zu klopfen; ich rannte weg.
Keine Zeit, beschied ich das Mädchen, das im Gotisch-Seminar neben mir saß. Ich hielt ihr den Platz frei, weil es manchmal, wie sie sagte, schwierig sei, in diesem Gewühl einen Parkplatz zu finden; sie komme aus Marienburg. Ob ich zum Essen mitginge, wollte sie wissen, sie kenne da ein nettes Lokal in der Nähe, das Zeug in der Mensa sei ja zum Vergiften. Mich von ihr einladen lassen? Niemals. Keine Zeit. Schon gegessen. Ich muss weg. Zum Armsein ohne Angst fehlte mir das Selbstbewusstsein. Das lag verloren auf der Lichtung im Krawatter Busch.
Auch im Romantik-Seminar saß sie oft neben mir, die Schöne aus Marienburg, groß und schlank, blondes, schulterlanges Haar, bis in die Spitzen voller Selbstgefühl, ein paar Sommersprossen auf dem schmalen Nasenrücken, selbst im Winter sah sie aus, als käme sie gerade vom Tennis. Im hellrosa Kaschmirpulli, der mehr kostete als ein Monat Honnefer Modell, saß sie neben mir in der ersten Reihe und gab auf die Fragen des Oberassistenten
mit leiser, lispelnder Stimme Antworten, die den gesetzten Mann in Verlegenheit bringen sollten und das Auditorium zum Lachen. Ich glaubte, sie zu verachten, zu hassen. Bis ich bemerkte, dass ich im Kopf ihre Sätze wiederholte und weiterführte, ihre Gesten nachahmte und ihr Lispeln.
Für fünfzig Pfennig kaufte ich im Kaufhof einen Klappspiegel zum Aufstellen, zog ihn, wenn ich nach Dondorf zurückkam, unter den Büchern im Holzstall hervor und vergewisserte mich meiner Gesichtszüge. Übte das herablassend hochmütige Lächeln der blonden Kommilitonin, dieses langsame Zufallen, Senken der Lider bei hochgezogenen Brauen und unverwandtem Blick in die Augen des Gegenübers. Machte Augen und Lippen schmal; legte ihnen Verachtung auf wie Make-up.
Bis ich merkte, dass ich nicht nur sein wollte wie sie, die anderen. Ich wollte sie sein. Ich verachtete sie nicht. Ich beneidete sie. Diese Sicherheit. Diese Überlegenheit einer ganz und gar selbstgewissen Lebensordnung. Jeder von ihnen war überzeugt von seiner eigenen Bedeutung. Sie gehörten hierher. Schufen um sich herum eine Atmosphäre der Unantastbarkeit. Sie hatten ihren Platz, den ich mir erst erobern musste. Sie waren da. Ich drang ein. Sprechen, essen und trinken, gehen und stehen wie die anderen konnte ich mir beibringen. Doch diese Selbstsicherheit, dieses Selbstvertrauen, die selbstverständliche Lässigkeit und beiläufige Lebensgewissheit, die waren nicht zu lernen.
Ging ich nach Hause, fremd und zu nichts und niemandem gehörig, war mir, als sei ich gar nicht wirklich oder lebendig vorhanden, sondern nur im Kopf dessen, der jeweils an mich dachte, mich er-dachte. In Dondorf war ich für Vater, Mutter, Großmutter dat Studierte. In Köln für Professor, Assistenten, Kommilitonen Studienanfängerin N.N. Immer versuchte ich zu sein, wie ich dachte, die anderen sähen mich.
Hätte ich es mit Menschen zu tun gehabt wie in der Schule und vormals in der Familie, als der Vater noch den Gürtel aus der Schlaufe gezogen und die Mutter »Josäff!« geschrien hatte, bevor das Leder aufs Fleisch traf, ich hätte mich wehren können,
Streit anfangen, die Uhr von der Kirmes zerschmeißen, egal. Etwas Wirkliches wäre das gewesen, wenn auch noch so unerträglich, ein bestimmter Mensch, der mir etwas Wirkliches zufügte, dem ich etwas Handfestes hätte zufügen können. Ich aber fühlte mich gefangen in einem Geflecht unpersönlicher Umstände, einem
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