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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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sich langsam lockerten, der Krampf der Kinnbacken nachließ, sich die Hände vom Plastikeinband lösten. Ich drückte die Mine aus dem Kopf des Kugelschreiber und notierte: »Neben thematischer Verbindung und der Akzentuierung des Geschehensberichtes tritt die Funktion psychologischer Wirkung auf die Figuren auf, die deren Handlungsweise beeinflusst und lenkt …« Mein Stift folgte der Stimme, die Studentin dem Professor in spe, willenlos, meinungslos. So sollte es sein. Die Ordnung war wiederhergestellt. Ein Schluckauf ließ meine Hand noch einmal entgleisen. Knabe blickte gleichgültig zu mir hinüber; auch er war wieder da, wo Ordnung herrschte, im Reich des hermeneutischen Zirkels, wo jedes Ding seinen Ort hat, seine Bestimmung und der Deutung harrte.
    Zu Hause fing ich ein zweites Ringbuch an, in dem ich die Aufzeichnungen eines jeden Tages nach Herzenslust kommentierte, widerlegte, bestritt. Ungehemmt, spitzfindig, hämisch, bisweilen zänkisch. In den Texten der Dichter suchte ich die Konstruktion, den Aufbau; in den Texten der Professoren den Konstruktionsfehler, den Zusammenbruch.
    Knabe legte ich drei handgeschriebene Seiten ins Fach: Warum ich anderer Meinung bin. War ich auch lautlos, sprachlos war ich nicht, das sollte er wissen.

    Mit trockenen Tagen und Nächten und der höher wandernden Sonne ging der Frühling in den Sommer über. Ich hatte die Welt gegen die Universitätsbibliothek getauscht. Saß, las, versank. Nicht viel anders als im Holzstall.
    In der Universitätsbibliothek hatte nichts mit mir zu tun. Ich war für nichts verantwortlich, außer für eine bestimmte Ansammlung von Büchern, Apparat genannt, der ein gewisses Heimischsein herstellte, indem er mich Tag für Tag auf denselben Platz an einem schmalen Holztisch zwang. Lebenszeichen wie Räuspern, wenn es das Maß eines kurzen trockenen Kehlesäuberns überschritt, leises Kichern oder Flüstern wurden mit scharfem Zischen erstickt. Bestenfalls nickte man sich zu, ohne einander zu sehen, zu kennen oder kennenlernen zu wollen.
    Leben war Lesen in freiwillig geteilter Einsamkeit. Der Körper in die Augen konzentriert oder in die Hand mit dem Stift. Jenseits der hölzernen Regale, der cellophanschimmernden, mit Signaturen und Ziffern stigmatisierten Buchrücken fixierten die Pupillen erdenferne Orte in dieser unermesslichen Galaxis des Geistes. Auf den Brettern herrschte eine aufgeräumte, unverrückbare Ordnung. Der ganze Raum und jeder, der sich hier sorgsam bewegte, wirkte geordnet, war sich seiner sicher. Die Heerschar der Bücher strahlte eine Gewissheit aus, die es so sonst nirgends gab. Mich hinter ihnen zu verschanzen: Weiter weg konnte ich mich von der Wirklichkeit nicht entfernen.
    Auch Unterstreichungen und Randnotizen in den Büchern beeinträchtigten diese Weltabgewandtheit nicht. Im Gegenteil. Zwar unterließ ich es, selbst welche zu machen, doch diesen heimlichen Dialog zwischen Verfasser und einem fremden Leser zu belauschen, erregte mich mitunter so sehr, dass ich kaum widerstehen konnte, mich als Dritte einzumischen, den Kommentar zum Kommentar zu kommentieren.
    Hüten musste ich mich vor allem, was mit Wissenschaft nichts zu tun hatte: eine Ansichtskarte von Bielefeld zum Beispiel, unterzeichnet von sechzehn Personen in »Erinnerung an die
Familienfürsorge«, grüßte Herrn Martin Ochs in Hubbelrath, Bachgässchen 5. Aus den Metamorphosen eines Schlafliedes fiel die Karte und wiegte mich im Entziffern von sieben Männer- und neun Frauennamen weit hinaus aus der »allegorischen Motivkopplung, in der Zeichen und Bezeichnung zur Deckung streben« und tief hinein in die Bielefelder Familienfürsorge und das Wohlergehen des Martin Ochs.
    Eine Quittung für den Kauf eines Hutes bei Rosenkranz auf der Hohe Straße steckte in den Grundformen der Säkularisation und versetzte mich zurück in das kleine Mädchen, die kleine Hildegard, die, im dreifach umgesäumten Mantel der Cousine, mit der Tante bei C&A für die Beerdigung des Großvaters einen Hut gekauft hatte, schwarzer Samttopf mit Tüllschleier, den die Tante wegen der Hitze aber doch nicht getragen hatte.
    Und dann dieser vergilbte Zettel, halb postkartengroß, »Meldeschein der P-« konnte man lesen, darunter klein: »für die polizei-«, offenbar ein Anmeldeschein für die Übernachtung in einem Hotel in deutscher und russischer Sprache. Auf der Rückseite in Sütterlin: »Liebe Lieselotte! Habe bis 1/2 10 im Regen auf Dich gewartet, war auch im -«, das Wort konnte ich

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