Aufbruch - Roman
soll dat Kenk nit no Kölle trecke? Wenn et dat bezahle kann. Los mesch en Ruh. Isch ben möd.«
Früher wäre den Worten des Vaters geducktes Schweigen gefolgt. Heute, noch bevor er die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, leise, behutsam - früher hatte er keinen Raum verlassen, ohne die Tür zu knallen -, brach in seltener Einheit aus Mutter und Großmutter entrüsteter Protest.
»Wat es denn met däm los?« Die Großmutter hielt es nicht länger am Tisch. Melissengeist war fällig. Doppelte Portion. »Dä kritt jet vun mir ze hüre!«
»Mach dat Radio widder an!«, maulte die Mutter und stapelte die Kompottschalen auf. »Jäv mer dinge Teller. Alleen en Kölle. Nä, nä, wenn de ne Jong wärst. Ävver so als Mädsche. Nä, sach isch.«
»Mama«, sagte ich, »ich bin neunzehn, im nächsten Semester zwanzig.«
»Semester, Semester«, äffte die Mutter, »meins de, dat macht desch vernünftijer? Nä!« Die Mutter klatschte die Hand aufs Wachstuch, wie sonst nur die Tante. »Mit mingem Willen nit!« Und noch einmal auf Hochdeutsch: »Mit meinem Willen nischt!«
Das war unerhört! Noch nie dagewesen. Die Mutter widersprach dem Vater.
Ich suchte Bertrams Blick; der hatte es jetzt eilig. »Ich muss«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Amo, amas, amat. Denk an die drei Könige.«
»Jo, maat nur all, dat ihr fottkütt!« Die Stimme der Mutter hatte ihren weinerlich vorwurfsvollen Ton wiedergefunden. »Mir künne jo he de Dräcksärbeed mache. Vom Läse, Lesen, wöd mer nit satt. Dat merk der ens! Un du«, sie packte den Bruder beim Arm. »Du bes öm acht widder he!«
Es klopfte. Ich schrak zusammen. Mein Holzstall war tabu. Niemand, nicht einmal Bertram durfte mich hier stören.
Es klopfte. Draußen stand der Vater in Mantel und Hut. Auf seinem Gesicht ein Ausdruck, den ich an ihm kannte, wenn ihm der Prinzipal mit schnarrender Stimme und abgehackten Bewegungen auseinandersetzte, wie er den Garten gestaltet zu sehen wünschte. Und nun nahm der Vater auch noch den Hut vom Kopf und drehte ihn unbeholfen in den Händen, ein paar Zentimeter nach rechts, ein paar Zentimeter nach links.
»Du?«, sagte ich. »Was is?«
So nah beieinander hatten wir lange nicht gestanden. Ich in meinem Stall, meinem Refugium, im Schutz meines Trostgestells; der Vater draußen. Für zwei war in meiner Zuflucht kein Platz.
»Has de Zeit?«, fragte der Vater. Seine Hände hielten den Hut jetzt still, und die Narbe auf seiner Wange war hochrot und zuckte bis unters Auge.
»Ist was?«, sagte ich noch einmal. »Klar hab ich Zeit.«
Ich wollte nicht, dass der Vater vor mir stand wie vor dem Prinzipal. So hatte der Wäschemann vor den Frauen gestanden,
wenn er die Entscheidung erwartete für oder gegen das teurere Korsett, die Bettwäsche, Biber einfach uni oder doppelt mit Muster floral. Beinah unheimlich war mir dieser Vater.
»Komms de jitz? Oder nit?« Der Vater setzte den Hut auf. Ich war froh, die bekannte barsche Ungeduld in seiner Stimme wiederzufinden. »Mach fix, die do drinne brauche uns nit ze sehe.« Der Vater fasste mich beim Arm. Ich zuckte zurück. Wir sahen uns an wie ertappt.
»Isch jeh schon mal vor.« Der Vater wandte mir den Rücken zu. Ich schaute in den Klappspiegel und fuhr mir mit dem Kamm durchs Haar.
Seit unserer Fahrt nach Köln war ich mit dem Vater nicht mehr allein gewesen. Damals in Köln, das war in der Fremde gewesen, im Niemandsland, Wunderland, wo wir aus unseren gewohnten Rollen hatten herausschlüpfen können, uns ein stückweit neu erfinden, zueinander hatten finden können. In Dondorf mit dem Vater in ein Geschäft zu gehen: undenkbar. In ein Wirtshaus erst recht nicht. Und durch die Straßen?
An Piepers Eck holte ich ihn ein. Unschlüssig schaute er nach rechts, nach links. Ich ahnte, was er überlegte. Sollten wir links durch die belebte Dorfstraße gehen oder rechts am Friedhof vorbei, wo uns kaum einer sehen würde. Wohin es ging, war klar: an den Rhein.
»Komm«, sagte ich und wandte mich nach links.
Mitten durchs Dorf ging ich neben dem Vater, sah, wie sich meine Füße in den schmuddeligen Turnschuhen neben seinen bewegten. Sein linker Fuß in einem hohen orthopädischen Stiefel. Sein rechter im blankgewienerten Halbschuh. Das ließ sich die Mutter nicht nehmen. Ich gehe neben dem Vater, sagte es in meinem Kopf. Hilla Palm geht neben Josef Palm die Dorfstraße entlang, an der Post vorbei, am Krankenhaus vorbei, durch das Tor vom Schinderturm, ich registrierte die
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