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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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quadratischen Platten, mit denen die Bürgersteige gerade neu belegt worden waren; die dünnen Kastanien, mit Gurten an Holzpflöcken befestigt, wie die Zucht so die Frucht, hier und da ein Hundehaufen.
Ein klarer warmer Tag, der Himmel blau und rein wie frische Wäsche. Die Straße sonntagsstill und mittagsleer.
    Der Vater stumm wie ich. Sein Bein in dem plumpen Schuh schlug bei jedem Schritt zur Seite aus wie ein störrisches Pferd, so, dass ich immer weiter nach links rückte, bis ich mich dicht an die Fensterscheibe von Alma Maders Hutladen drücken musste, wollte ich nicht Gefahr laufen, den Vater zu berühren.
    Der Vater trat neben mich. »Seit wann interessierst de disch für Hüte?« Seine Stimme klang rau, beinah erstickt, als unterdrücke er, was in der Kehle schon auf die Zunge drängte. Hätte er am liebsten so wie ich gesagt: Weißt du noch? Weißt du noch, wie wir einmal vor einem ganz anderen Schaufenster standen, auf der Hohe Straße in Köln? Das Wissen der Welt in zwölf Bänden.
    »Nä, Papa, wat soll isch denn mit nem Hut.« Ich versuchte lustig zu klingen, unbefangen - was für ein Wort! -, und musste doch hören, dass meine Stimme heiser war wie die seine. Zu sonderbar schien mir dieses Sichverstehen und Verständigen, jenseits der gesprochenen Worte, ich ahnte, dass ich mich hätte geborgen fühlen können, wenn … Wenn nicht so vieles vorher geschehen wäre, das erst ausgesprochen werden musste. Da war der Geruch von Tabak, von Schweiß, von Mann. Ich rückte vom Vater ab und wechselte auf die rechte Seite. Hier konnte ich beliebig zur Straße ausweichen.

Noch war uns niemand begegnet. So kurz nach den schweren Sonntagsessen räumten die Frauen die Küche auf, und die Männer erlaubten sich mit gelockertem Hosenbund ein Nickerchen auf der Couch.
    Doch an Süß’ Eisdiele standen die Leute bis hinaus zur Tür, auch Trappmanns Tring wartete auf die Sahne für ihre Glasschüssel, in deren geschliffenen Sternen sich die Sonnenstrahlen fingen.
    »Na, ihr zwei«, die Frau hatte uns gesehen, schwenkte die Schüssel zur Begrüßung hoch überm Kopf und trat aus der Schlange auf uns zu. »So janz allein? Wo is denn dat Maria?
Dat is doch nit krank? Et is doch nix passiert? Wo wollt ihr denn hin?« Forschend sah sie sich nach allen Seiten um.
    Nein, passiert sei gar nichts, beruhigte ich die aufgeregte Frau, die sich daraufhin wieder in die Schlange reihte.
    Gar nichts war passiert, außer der Ungeheuerlichkeit, dass ich an einem frühen Sonntagnachmittag mit dem Vater durchs Dorf ging. Spazieren. Allein.
    Ein paar Häuser weiter bückte ich mich, tat so, als bände ich einen Schnürriemen und spähte durch die Beine nach Frau Trappmann, die uns noch immer hinterherstarrte.
    »Die ahle Zausel«, hörte ich den Vater knurren. »Wat meins de, trinke mir einen hier beim Schäng. Dann hätt die Möhn noch mie ze kamelle.«
    »Du meinst, hier rein?« Wie angewurzelt blieb ich vorm Pückler stehen.
    »Waröm dann nit?« Ungelenk setzte der Vater den orthopädischen Schuh auf die erste Stufe. Aus dem Wirtshaus drang Gelächter, Männerstimmen, nicht mehr nüchtern, wer jetzt noch hier saß, hatte kein Zuhause, war von niemandem zu sonntäglichem Mittagessen erwartet worden, würde auch von keinem erwartet werden, bis zum nächsten Morgen an der Stechuhr.
    »Da rein?«, wiederholte ich in den Rücken des Vaters. »Nä!«
    Der Vater zog den Fuß zurück, drehte sich um, sah, wie es seine Gewohnheit war, an mir vorbei und knurrte: »Na, dann nit.« Seine Gestalt, die der kühne Entschluss, einen trinken zu gehen, gestrafft hatte, nahm wieder ihr erschöpftes Aussehen an.
    Wortlos gingen wir weiter, ließen die Anlagen, den Reitstall hinter uns, vorbei an Porreefeldern, Rüben und Kohl, die Auen in einer blauen Wolke von Hitzedunst. Ermattet lagen ein paar Kühe im Schatten der Weiden und Hings’ Ziegenbock, wie eh und je vorm Marienkapellchen angepflockt, meckerte uns entgegen. Als Kind hatte ich das Tier für den Teufel gehalten, und im Traum suchte es mich heim und nahm mich auf die Hörner.

    Die Böschung hinauf ging es, auf den Damm, wo ich mich losgerissen hatte von der Hand des Großvaters, vorangestürmt war und wieder an sein Hosenbein. Ich sehnte mich zurück nach dem kleinen Mädchen im hellgrauen Selbstgestrickten, nach seiner Welt, wo alles an seinem Platz war und die Plätze bekannt, wo alles hinauslief auf das Dach überm Kopf in der Altstraße 2.
    Den Damm hinauf kamen wir nur langsam voran.

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