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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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habe ihm die Tant aber nachgeschickt mitsamt den Kleidern, die sie ja alle neu für ihn angeschafft hatte. Zweimal sei noch ein Paket von ihr für ihn gekommen. Jedesmal habe der Ahl ihn das Paket auspacken lassen. Im zweiten sei ein Buch gewesen. Sven Hedin: Meine erste Reise .

    Der Ahl habe dabeigestanden, wie er es aufgeschlagen und begierig die Photos angesehen habe. Dann habe er ihn beim Genick gepackt und sei mit ihm zum Misthaufen hinter den Ställen gegangen. Dort habe er, der kleine Josef, das Buch auf den Mist werfen müssen. Zunächst habe er geglaubt, alles sei noch zu retten; wenn der Ahl erst einmal weg wäre, würde er das Buch wieder holen. »Ävver dat woss dä och«, der Vater knirschte mit den Zähnen, ein vertrautes Geräusch, mit dem er den Sticheleien der Großmutter begegnete, wenn die ihm vorhielt, dass unser Häuschen schließlich ihr gehöre.
    »Dat wusste der auch«, knirschte der Vater, »un isch musste dat Booch in dem Mist verjrawe.«
    »Nä!«
    Nachts sei er aber trotzdem zu dem Haufen geschlichen und habe den Mist durchwühlt. Nackt. Das Unterzeug - »Schlafanzüje oder Nachthemde kannte mir nit« - habe er natürlich ausgezogen. Gewühlt habe er, bis die Hähne krähten. Da habe er sich in der Tränke gewaschen, mit Unterhemd und Unterhose abgetrocknet und sei ins Haus zurück. Wo ihn der falsche Vater erwartete. Mit dem Ochsenziemer.
    Ich war der Geschichte des Vaters gefolgt, sagte mir: Der Vater erzählt eine Geschichte. Wollte nicht noch mehr wissen von ihm, seinem Leiden, wollte es nicht zu einem Teil von mir machen, was der Sohn eines Mannes, der sich die Kehle durchgeschnitten hatte, sich selbst abgestochen hatte wie ein Schwein, mir erzählte. Ich wollte das doch alles gar nicht wissen! Wo war die Form dessen, was er sagte, ich brauchte die Form, wo waren Hysteron-Proteron und Hendiadyoin, das Buch im Mist vergraben, Anakoluth, Katachrese und Paradoxon, der nackte Junge im Misthaufen wühlend. Ochsenziemer. Ochsenziemer. Ochsenziemer. Das war doch nur ein Wort. Ein Wort wie jedes andere. Ochsenziemer: Das war ein Wort aus dem 19. Jahrhundert, kein schönes Wort, nicht so flink und elegant wie Gerte oder kess und listig wie Peitschenknall. Ochsenziemer: Was hatte das mit dem kleinen Jungen zu
tun, der mein Vater war, Ochsenziemer, das war doch ein viel zu schweres Wort für den schmalen Körper eines Elfjährigen. Bei Jeremias Gotthelf zu lesen für störrisches Rindvieh oder bei Dostojewski, wenn Leibeigenen die Freiheit herausgeprügelt wurde. Im Lexikon würde ich nachschlagen, wo es herkam. Ochsenziemer, ein widerwärtiges Wort, wann immer Mensch oder Tier zur Raison gebracht werden musste. Aber doch nur auf dem Papier!
    »Desch bräng esch zur Räsong!«, habe der Ahl, der falsche Vater, geschrien.
    Und er, der kleine Josef, habe die Zähne zusammengebissen, bis er den Mund habe aufreißen müssen zu einem einzigen Schrei, der das ganze Haus, die Mutter, die Schwestern und Brüder, Knechte und Mägde aus den Betten gejagt und zu ihm getrieben habe. Er habe dagelegen. Vom Ahl, das habe ihm Schwester Christine später erzählt, keine Spur. Nur der Ochsenziemer. Blutiggeschlagen.
    Wochenlang sei er, Josef, nicht mehr hochgekommen.
    »Ungerstang disch, dä Dokter ze holle«, habe der Ahl gebrüllt und den Ochsenziemer gegen die Mutter geschwungen. Aber Christine hatte er es nicht verboten. Als der Ahl wie jeden Samstag auf den Markt gefahren war, hatte sie den Arzt aus Großenfeld geholt. Trotzdem habe es fast ein halbes Jahr gedauert, ehe er, Josef, wieder mit anpacken konnte. »En de Scholl ben isch nit mehr jejangen.« Und ein halbes Schwein habe es gekostet, den Doktor von einer Anzeige abzubringen, hatte ihm die Schwester später erzählt.
    »Jo«, sagte der Vater, »et Christinsche. Et hat dann früh jeheiratet, nach Ronningen, un dann is et im Kriesch umjekommen. Phosphor. So klein verkohlt.«
    Der Vater umfasste mit den Händen ein luftiges Rechteck von der Größe einer Zigarrenschachtel.
    Ich hätte gern mehr von Christine gehört, hätte von jeder Person der Welt gern mehr gehört, wenn der Vater doch endlich aufhören würde, von sich zu erzählen.

    Als hätte er meine Gedanken erraten, schüttelte er sich und richtete sich auf. »Verzäll!«, schnitt er sich selbst das Wort ab. »Ävver Bööscher? Nä! Driss!«
    »Bööscher! Nä!«, hatte mich der Vater vor den Lexika im Kölner Schaufenster abgewiesen. Verstohlen sah ich ihn an. Seine Züge verschlossen wie

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