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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Der Vater blieb stehen, presste beide Hände auf die Brust. Er atmete schwer und ließ sich auf die nächste Bank fallen. Seinen linken Fuß schob er, wie es seine Gewohnheit war, nach hinten, aus den Augen.
    Ich setzte mich ans andere Ende der Bank; die Mutter hätte noch gut zwischen uns gepasst. Überm Rhein beschrieb ein Kunstflieger den Himmel mit Schleifen, Schnörkeln und verrutschten Kreisen.
    »Kanns de dat auch lesen?«, fragte der Vater und deutete auf die unsteten Zeichen, die im Wind überm Wasser rasch verwischten.
    »Ja«, buchstabierte ich gespielt mühsam, »da steht: ›Warum ist es am Rhein so schön.‹«
    »›Weil die Mädschen so lustisch un die Burschen so durstisch‹«, fiel der Vater ein, als gäbe ein eifriger Schüler dem Lehrer die einzig richtige Antwort auf seine Frage. Aber lachen konnte ich nicht. Was hatte der Vater vor?
    Er räusperte sich. Unwillkürlich rutschte ich noch ein Stück weiter, ans Bankende, während er seine Hand ausstreckte, als wolle er nach mir greifen.
    Das Flugzeug am Himmel war verschwunden, die Schrift verblasst.
    »Et es wärm«, sagte der Vater und zerrte seine Krawatte vom Hals. Er hatte sie nach dem Kirchgang zum Mittagessen abgelegt und für unseren Spaziergang wieder umgebunden. Ich hatte die Hitze kaum gespürt; jetzt fand ich die Glut, die aus den Wiesen stieg, die Mückenschwärme in den Weiden unerträglich.

    Der Vater kramte in seiner Hosentasche und zog eine grüngoldene, flache, rechteckige Blechschachtel hervor. »Wills de auch?«
    »Lieber nit.« Die schwarzen Perlen, immer weich, verklumpt, waren mir seit Kindertagen verhasst. Nie hatte der Vater zum Stöckchen gegriffen, ohne sich vorher eine dieser Perlen zuzustecken.
    »Isch war ja noch klein; da is minge Vatter - jestorven. Du weiß ja, wie. Da war isch elf.« Wie immer klang die Stimme des Vaters, als hole er die Wörter von weit her aus sich heraus, als mache ihm jede Silbe Mühe. Doch anders als sonst, wenn er den Mund nur so weit wie nötig öffnete, sprach er mit fester, lauter Stimme.
    Ich sah den Vater von der Seite an. Dieser Strich, diese verneinende Linie seiner Lippen, vor der ich mich so gefürchtet hatte: All die Sätze, die sie zurückgehalten hatten, all die Worte, die er nie hatte finden können hinter diesem Strich.
    »Un dann hat die Mamm widder jeheiratet. Wejen dem Hof. Du kennst jo den Ahl.«
    Der Ahl, der falsche Vater des Vaters, der falsche Großvater; dem ich den schwarzen Fritz verdankte und Lindenwirtin, du junge auf dem Akkordeon zu seinem Geburtstag. Fünf-Mark-Stücke oder einen Schein in das abschiedsgedrückte schöne Händchen. Mehr kannte ich nicht von däm Ahl. Aber der Vater.
    »Do sollt isch vun dr Scholl. Arbeede op dem Hof. Do bin isch weg. Ab in die Eifel. Nach der Tant.«
    Der Vater machte eine Pause. Von der Eifeler Tante war immer einmal wieder die Rede gewesen. Sie war unverheiratet und bewohnte mit einer Freundin ein kleines Haus mit einem großen Garten, der die beiden mit allem versorgte, was sie zum Leben brauchten. Haus und Garten gehörten der Freundin, die wohl auch ein bisschen Geld hatte. Zu Gesicht gekriegt hatte ich die beiden Frauen nie, nur eine Postkarte war irgendwann gekommen, »Capri«, hatte ich buchstabiert und gestaunt über so viel Blau aus Himmel und Wasser.

    »Jo, do war isch bei der Tant. Un bei der andere Frau. Die Tant war ja da nit allein.«
    Wieder machte der Vater eine Pause. Nicht nur die Wörter, auch die Bilder vor den Wörtern suchten sich mühsam ihren Weg ins Gedächtnis.
    »Aber dat andere, dat Edith, dat hatte Muckis.«
    Der Vater klopfte seinen Oberarm. »Die schmiss dä Laden. Jehörte ihr ja auch alles. Ließ sie aber nie merken. Isch hab für se beide Tante jesacht.«
    Der Vater sprach nun schneller, flüssiger, wie einer, der nach einiger Übung Freude am Gelingen einer Sache findet.
    »Die hat mit dä Mamm jesproche un die met däm Ahl.«
    Das Gesicht des Vaters verfinsterte sich. Noch nach so langer Zeit glaubte ich, Hass in seiner Stimme zu hören. »Extra nach Rüpprich sin die jefahre. Un dä Ahl hätt jo auch Ja jesacht. En Muul wenijer. Un isch jing ja auch schon widder en de Scholl. En Prüm.«
    Der Vater lächelte. Ja, wirklich, seine Mundwinkel bogen sich nach oben. Er reckte den Hals vor und blinzelte in die Sonne, über den Strom, folgte seinem Fluss in eine andere Zeit, Kinderzeit.
    Ich schaute weg, als hätte ich eine unanständige Blöße entdeckt. Dieses Lächeln war nicht für mich

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