Aufbruch - Roman
bestimmt. Es ging mich nichts an. Ich wollte nicht, dass mich ein Lächeln des Vaters, ein lächelnder Vater anging.
Die Sirene der Rhenania zeigte das Ende der Frühschicht an. Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Vaters. Die Mundwinkel sanken herab; seine Narbe zuckte.
»Dat jing so bis in dä Herbst. Da stand auf einmal dä Ahl vor dä Tür. Ohne die Mamm. Ävver met dem Dücker. Dä Dräcksau.«
Der Vater vergrub sein Gesicht in den Händen. Nun sprach er nur noch für sich. Edith habe auf der Leiter gestanden in einem Blaumann, so wie die seinen. Die Tant und er hätten unterm Baum die Äpfel aufgelesen oder aufgefangen und in
einen Korb gelegt. Damals habe er nicht begriffen, was der Dücker, das Arschloch, gewollt habe. Er war der Rektor der Schule und ehrenamtlich als Küster tätig. Er habe ja auch nur stumm dabeigestanden, als der Ahl auf die Leiter zugestürzt sei, sie gerüttelt habe, dass Edith sich an einem der Äste festklammern und schließlich, als es ihm gelungen war, die Leiter wegzuziehen, ohne dass Dücker es hätte verhindern wollen, die Tant es hätte verhindern können, den Ast loslassen und springen musste, ihr massiger Körper dem fetten Dücker direkt vor die Füße. Dieser aber sei stumm geblieben und habe den Ahl schreien lassen von Weiberwirtschaft, kein Umgang für Kinder und erst recht nicht für einen Jungen.
»Einfach metjenomme han die misch. Einfach metjenomme.«
Einen Meter neben mir saß der Vater. Was will uns der Dichter damit sagen? Was der Vater mir sagte, ich wollte es nicht verstehen. Einen Meter neben mir saß ein Mann, der ein Junge war, drückte sein Gesicht in die kaputt gearbeiteten Hände, und durch seinen Körper ging das Schluchzen des Kindes. Ich konnte den Jambus vom Trochäus unterscheiden, im hermeneutischen Zirkel wurde noch das Komma an seinen Ort und seine Stelle abkommandiert. Ich hatte die Dichtung im Griff, seitdem sie mich nichts mehr anging. Was will uns der Dichter damit sagen? Kein Problem. Hölderlin, Benn, Gryphius, Sartre - ich bin meine Freiheit -, ich hatte sie alle im Griff von Funktion, Struktur und Formgeschichte. Die Geschichte des Vaters wollte ich nicht verstehen.
»Einfach metjenomme«, stöhnte der Vater und löste die Hände vom Gesicht. Seine verstörten Züge verstörten mich, verwirrten mein Bild von einem Vater, der, wenn er seine alltägliche mürrisch versteinerte Miene ablegte, in Ärger ausbrach oder Wut. Den ich nie hatte lachen hören, weder laut und dröhnend, schenkelklopfend, wie Männer lachen, die gewohnt sind, dem Leben breit zu begegnen, frei heraus, ein Platzregen knallender Lachlaute aus wohlgepflegten, wohlgefüllten Bäuchen. Noch krampfhaft bellend, als fürchteten sie, die ungewohnten Töne
herauszulassen aus ihren von Ängsten verschnürten, eng gewordenen Brustkörben, selbst dieses widerwillige, einem herzhaften Lachen nur sehr entfernt verwandte Geräusch, hatte ich nie, nicht ein Mal aus dem Mund des Vaters vernommen.
Doch sosehr ich mich auch auf den Wind in den Pappeln konzentrierte, mich abwandte und einen Geißbock studierte; kurz angepflockt stieß er, immer wieder vergeblich, nach einem struppigen Hund, der ihn in wilden Sprüngen umbellte. Sosehr ich auch alles tat, den Mann neben mir aus der Wirklichkeit meiner Wahrnehmung zu schaffen, ich musste dieses ohnmächtige Gefühl, das von der Magengrube flau in die Kehle stieg und sich dort dehnte, bis es mir die Luft nahm, dem Mann auf der Bank zuschreiben, dem Mann, der mein Vater war. Ich wollte den wehrlosen, schwachen so wenig wie den jähzornigen, starken Vater. Dieser war mir am Ende noch lieber als der hier neben mir auf der Bank.
Einfach mitjenomme habe ihn der Ahl, mit Dückers Hilfe. Freiwillig sei er nicht mitgegangen, o nein, das könne ich mir ja denken. Die Stimme des Vaters gewann ihre Festigkeit zurück, als nähme noch einmal der kleine Josef, der verzweifelt um sich schlagende, schreiende, tretende Junge, von ihm Besitz.
Die Tant habe sogar mit der Polizei gedroht, aber der Dücker habe bloß dreckig gelacht und gesagt, denen werde er erzählen, was hier los sei. Zwei Weiber und nie ein Mann im Haus oder im Garten. Da seien die Frauen einander in die Arme gefallen, und das sei das Letzte gewesen, was er von ihnen gesehen habe. Nicht einmal seine Schulsachen, die Bücher habe er mitnehmen dürfen. Weggeschleppt hätten sie ihn, so, wie er unter dem Baum stand.
»Em Stall bruchs de ken Bööscher«, habe der Ahl geknurrt. Die
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