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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Erinnerung.
    Fuhr ich abends im großen Bogen ums Dorf nach Hause, flimmerten die Wörter auf der Zunge, prickelten wie die Gischt in den Kribben, wenn ein Schleppkahn in voller Fahrt rheinaufwärts stampfte. Noch wenn ich das Fahrrad durchs Gartentor schob und der Mutter zuwinkte, die sich schon auf einen Abend mit Robert Lembke freute, spürte ich die Silben in der Herzgegend pochen.
    Es war schön, nach einem Tag der ängstelosen Versunkenheit neben der Mutter zu sitzen. Wenn Lembke die Sparschweine schüttelte und fragte: »Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?«, gluckste sie vor Vergnügen, und wenn Guido, der Ratefuchs, die Dame Annette und der schlaue Hans Sachs versuchten, den nur mit einem Handzeichen - der typischen Handbewegung - angedeuteten Beruf des Gastes zu erforschen, klatschte sie in die Hände, wenn einer aus der Runde danebenriet und ein Fünf-Mark-Stück in den Schweinebauch klapperte.
    In dem Hin und Her von richtig und falsch, wie es da vor unseren Augen heiter ablief, ging die Mutter genauso auf wie ich im Kurzschluss mit den Ding-Wörtern. Hier konnte sie sich selbst vergessen; nicht nur den Alltag, die ständigen Sorgen ums Auskommen, die Zwistigkeiten mit der Nachbarschaft, der Großmutter, dem Mann. Sich selbst vergessen hieß, die Angst zu vergessen, den Kleinmut, der ihr Leben durchtränkte. Die Falle der Freudlosigkeit, die immer wieder zuschnappte, außer Kraft gesetzt vom fröhlichen Ritual eines Ratespiels. Das Gesicht der Mutter gesammelt, versunken, beinah entrückt, wie in der Kirche beim »O Haupt voll Blut und Wunden« oder »Tag des Zornes, Tag der Zähren«.
    In den Bann gezogen werden. Spielt es eine Rolle, wodurch die triviale Wirklichkeit zu glitzern beginnt und uns aus unserem gewohnten Rahmen verrückt? Ob durch meine mystischen Versenkungen oder Was bin ich? und Kommissar Maigret der
Mutter; ob vom Blauen Bock , einer Sendung, die die Tante, oder von Reitturnieren - Hans Günter Winkler auf Halla -, die der Vater liebte? Ob die Erlösung, die Lösung aus dem Alltag, dem Alltags-Ich von den Wörtern oder den Bildern, dem Buch oder dem Fernsehen kam? Von Faust und Tell oder von Maigret und Heinz Sielmann? Hölderlin oder Onkel Lou? Richard Wagner oder Freddy Quinn? Wo war denn für das eigene Herz der Unterschied?
     
    Die letzte Woche vor Maternus verstrich, ohne dass wieder jemand von Köln gesprochen hätte. Traf ich den Bruder, schien mir, er schaute mich unschlüssig an und ging seiner Wege.
    Es war am Samstag, die Mutter auf dem Friedhof, der Vater im Garten des Prinzipals, Bertram irgendwo unterwegs, als die Großmutter mich am Gartentor beim Gepäckständer meines Fahrrads zurückhielt. »Isch hab mit dir ze reden, Heldejaad.«
    Wie lange hatte ich diesen Namen nicht mehr von ihr gehört. Seit ich Hilla durchgesetzt hatte, war ich für die Großmutter »du« oder »Hürens« 61 . Das feierliche »Hildegard« brachte all die Kämpfe um Hilla, diese freiwillige Verstümmelung meines Namens, silbenschnell zurück.
    »Lass dat Rad stehn. Isch hab dir wat ze sagen. Komm, setze mer uns.« Zwei Tassen - mit Untertassen! - Mohnschnecken, frisch und für jeden eine ganze, auf dem Küchentisch. Unter dem Großvaterkreuz flackerte das Flämmchen zur Ehre Jesu. Das Öl ging dem Ende entgegen. Um drei würde die Großmutter die Flamme pünktlich zur Sterbestunde des Gottessohnes löschen.
    »Tässje Kaffe?«, fragte die Großmutter und goss auch schon ein. Tässje Kaffe, wie sie sonst nur die Tante fragte, wenn noch etwas übriggeblieben war. Dieser Kaffee war frisch aufgebrüht, sein Duft schwarz und stark.
    »Kommt Besuch?«, fragte ich.

    »Nä«, die alte Frau sah mich listig an. Ihre Bäckchen pulsten rot. »Aber isch war zu Besuch.«
    Ich schwieg. Erforschte mein Gewissen. War mir keiner Schuld bewusst.
    »Isch war beim Herrn Pastor.« Neue Pause. Also doch irgendetwas mit Schuld und Sühne, Reue und Buße.
    »Isch hab dem dat erzählt, dat du nach Kölle ziehe willst.«
    Ich schob die Tasse von mir und legte die Mohnschnecke, ohne einen Bissen zu nehmen, zurück. Spürte, wie sich mein Rücken in zornigem Widerstand versteifte. Von allerhöchster Stelle also hatte sich die Großmutter die Sündhaftigkeit dieser Absicht bescheinigen lassen. Was hatte Kreuzkamp mit der Wahl meines Wohnorts zu tun? Und warum das Ganze mit Kaffee und Kuchen?
    »Ja«, sagte die Großmutter und biss herzhaft zu, hielt den Bissen im Mund, trank und weichte Kuchen und Kaffee genüsslich

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