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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Minderheit war eine radikale.
    Die Beine bequem auseinandergestellt, fassten sie Fuß, eine wagte sogar einen Ausfallschritt wie beim Fechten. Nicht eine Hand verschwand in einer der Taschen. Frauenhände griffen energisch die Jacke über der Weste zusammen oder baumelten neben den Hosen, jederzeit zum Zugriff bereit. Posen, von denen der sieben »Gentlemen« im »International style« nicht zu unterscheiden. Die Großmutter hatte recht. Für einige Herren der Schöpfung, auch wenn noch allein sie es waren, die Zeitung und Zigarette halten durften, dämmerte in der Tat das Ende ihrer Welt herauf.
    »Pass ja auf, wenn du so eine Anzug anziehst«, warnte Maria. »In Hamburg, in die Bar vom Atlantic Hotel, lassen se disch nur im Rock rein.«
    »Rischtisch so!«, pflichtete die Tante bei. »Die Fischköpp wisse noch, wat sisch jehürt. Mir bliewe bei de Röck. Maria, kuck mal, die schöne Unterröcke.«
    »Wenn dat hier vorbei ist«, Hanni klopfte liebevoll ihren Bauch, »kauf ich mir auch ne Hose. Is doch viel bequemer, besonders zum Radfahren.«
    »Nit unter meinem Dach!«, knurrte die Tante. »Als verheiratete Frau! Und Mutter!«
    »Unter deinem Dach nit, aber unter meinem!«, lachte Hanni unbekümmert.
    »Wat aff, wat dä Rudi dazu sacht«, wandte die Mutter ein.
    »Dä hätt mir ja nix zu sajen!«

    Mutter und Tante seufzten und blickten einander vielsagend an.
    »Un jetzt, komm neben misch Hilla, kucken mir mal nach wat Schönes!« Die Tante nahm wieder in der Mitte des Sofas Platz, drängte Maria in die Ecke und klopfte einladend neben sich. »Schlag mal auf, Seite hundertsiebzig!«
    Mit freudig geröteten Wangen musterte sie einige sonderbar pelzige Gebilde, ähnlich denen, die die Tante aus Ruppersteg bei meiner Kommunion getragen hatte. Damals eine Rarität, waren sie bis in den Quelle-Katalog vorgedrungen.
    »Schwarze und weiße Nerzkugeln, kombiniert mit weißer Lederschleife«, las die Tante, das Fettgedruckte mit anschwellender Stimme betonend: »Ein aparter Anstecker, zwei Mark fünfundneunzig. Oder hier: kugelförmige echte Nerzrosette mit Perle. Noch zwanzig Penne billiger.«
    »Hermelin-Gesteck«, fuhr Maria fort, »mit drei echten Hermelinschweifen als Rosette gearbeitet und mit Similisteinen, vier Mark fünfundsiebzig. Wat is dat: Similisteine?«
    »So wat Ähnliches wie Diamanten«, sagte Hanni.
    »Aber falsch!«, konnte ich mir nicht verkneifen.
    »Falsch?« Die Tante hielt den Katalog vor die Augen. »Blinken tun se aber wie eschte!«
    »Tja«, sagte ich. »Ist ja auch Latein. Similis, das heißt ähnlich.«
    »Na, siehs de«, triumphierte die Tante. »Ähnlich! Dat is doch besser wie falsch! ›Ein dekorativer Ansteckschmuck!‹«, triumphierte sie in Vorfreude auf das Gesicht der Ruppersteger Verwandten beim nächsten Familienfest.
    »Un mir zwei«, Hanni blinzelte mir zu, »mir nehmen die hier und teilen die uns. Anstecktierchen«, las Hanni. »Weißes Mäuschen, echt Hermelin und apartes Burundiki-Mäuschen. Zwei Stück im Cellophankästchen. Nur zwei Mark fünfundneunzig. Du weißt doch bestimmt, wat Maus auf Englisch heißt.«
    »Maus«, sagte ich.
    »Ja, siehs de«, foppte Hanni ihre Mutter, »is doch janz einfach.«

    »Aber schreiben tun die Engländer die Maus doch bestimmt wieder anders«, seufzte die Mutter.
    »Ja«, sagte ich, »mo-use.«
    Ziemlich lebendig schauten die Tierchen aus. Huschten heraus aus dem Katalog und sprangen mit ihren stecknadelkopfgroßen Glasaugen mir an den Kragen, mir, in der ersten Reihe bei Knabe, huschten in seine weit ausholenden Sätze, hinein in die Idee des Lyrischen Ich und nagten am hermeneutischen Zirkel.
    »Hilla«, die Tante gab mir einen Rippenstoß. »Un wat heißt Maus auf Lateinisch? Deine Römer kannten doch sischer auch schon en Mus.«
    »Mus«, sagte ich.
    »Die woren ja auch lang jenuch en Kölle«, nickte die Tante zufrieden.
    »Richtig«, gab ich zurück. »Die Römer waren lange genug in Colonia.«
    »Schluss jitz!«, fuhr die Mutter dazwischen, »mir müsse jehen.« Köln war ein Stichwort, das ihr nicht gefiel. Und mir auch nicht. Nirgends hatte ich mich in den vergangenen Monaten so wohl gefühlt wie heute bei Maria. Dabei sein und doch bei sich sein. Etwas von sich geben, das angenommen wird, und wenn es eine Handvoll Wörter sind. Colonia, Kölle, Köln: Ich war doch in Dondorf zu Hause. Und wollte am liebsten weg sein und blieb doch am liebsten hier.

    Bis zum Arbeitsanfang bei Maternus verbrachte ich die Tage am Rhein. Es war der

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