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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Maria. Wat jlaubst du, wie misch dat all die Johr jeärjert hat. Dat Martha schuftet, dat der Jesus wat ze esse un ze drinke krischt, un sing Schwester, dat Maria, sitzt auf der faule Haut, sitzt einfach bei dem Jesus un hürt dem zo. Un do sacht der doch wahrhaftisch: Martha,
Martha, du machst dir viele Sorjen und Mühen. Aber nur eines ist nötisch. Maria hat dat Bessere jewählt, dat soll ihr nit jenommen werden. Jonge, Jong, wie misch dat all die Johr jefuchs hat. Aber jetzt fang isch an, et zo bejreifen.«
    Die Großmutter senkte den Blick vom Kreuz zu mir herab, und ich schaute zu ihm hinauf, zum Gekreuzigten, dem gequälten Körper auf kunstvollem Schnitzwerk, als käme mir von dort die Erklärung für diese andere Großmutter. Nicht nur im Vater, auch in der Großmutter steckte ein alter ego, wie Sellmer sagen würde, ein anderes Ich. Wie viele Seiten hat ein jedes Ding, hatten wir als Kinder den Großvater gefragt. So viele, wie wir Blicke für sie haben, war seine Antwort gewesen. Und bei Menschen war das nicht anders. Im Guten und im Bösen.
    Schweigend aßen wir unsere Mohnschnecken. Schraken zusammen, als die Mutter hereinstürzte und wie versteinert stehen blieb: »Wat es dann hie los? Wat tut ihr denn hier?«
    »Tschö, Oma«, machte ich mich davon, die entrüstete Stimme der Mutter hinter mir her. Aber die Augen der Großmutter in meinem Rücken gaben mir einen kleinen Stups: Lommer jonn!
     
    Zwischen Rilkes Gesammelten Gedichten aus der Reihe »Bücher der Neunzehn«, zwischen Pearl S. Bucks Die gute Erde und Hölderlins Hyperion , Novalis’ Hymnen an die Nacht, Des Knaben Wunderhorn und den Märchen der Brüder Grimm, meinem ersten eigenen Buch; aus all den Büchern, die ich nach der Nacht auf der Lichtung in eine Kiste auf den Speicher gepackt hatte, wühlte ich es hervor: das Buch des Ohm zu meiner Firmung. Zwischen Maler Nolten und Heinrich von Ofterdingen , den Elixieren des Teufels, den Dämonen und Effi Briest , den Märchen von Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen lag es. Aber wie sah es aus! Jemand hatte dieses Buch in rotes Pergamentpapier eingeschlagen, die Ecken, die Kanten geknifft, die Ränder millimetergenau gleich breit: die Großmutter. Ihr bestes Papier. Ich streichelte die glatte, sonnenwarme Hülle, wie ich gern die Großmutter gestreichelt hätte, streichelte die
papierene Fürsorge, gleich, ob sie nun dem Buch galt, der Gabe des Ohm, oder mir. Durch den roten Schleier schimmerte es schwarz glänzend und rotgolden beschriftet. Hildegard von Bingen: Wisse die Wege. Scivias.
    Unter dem Schutzumschlag orangerotes Leinen, darauf in Gold geprägt ein Rahmen, ein Fenster, aus dem sich, von einem Lichtstrahl geführt, ein Wesen schwang, dem zu beiden Seiten des Kopfes und unterm Kinn Flügel wuchsen.
    Ich las den Klappentext und schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Was hatte der Ohm sich dabei gedacht, einer Dreizehnjährigen die Scivias , »geistiggeschaute Bilder nach dem Originaltext des illuminierten Rupertsberger-Kodex«, zum Lesen zu geben. Nicht einmal die Bilder hatten mich damals interessiert.
    Ich schlug das Buch aufs Geratewohl auf. »Schreibe, was du siehst und hörst!« Direkt auf die Kapsel prallte der Satz, wie die Worte der Dichter, ohne den Filter des Verstandes, die Einwände der Ironie, die Zermahlmühle des Spotts, die Kalkulation der Vernunft. Der Satz ein Keil.
    Als hätte ich ins Feuer gefasst, schleuderte ich das Buch zu den anderen zurück, sprang die Treppe hinunter, aus dem Haus, aufs Rad, an den Rhein.
    Irgendwo am Ufer warf ich das Rad unter eine Weide und rannte los. »Schreibe, was du siehst und hörst!« Ich rannte und schrie, schrie, was ich sah, schrie dem Rhein seinen Namen ins Gesicht und nannte ihn bei Wasser und Wellen, peitschte die Weide mit ihren Silben, trat das Gras mit breitem a untern Fuß, heulte den Himmel an und die Sonne, die Kiesel, den Sand im Schuh; schrie und rannte, schrie, was ich sah und hörte, bis mir Hören und Sehen verging und ich mich keuchend, atemlos beim Erlenwäldchen wiederfand, wo mich der Vater auf sein Sonntagstaschentuch eingeladen hatte. »Schreibe, was du siehst und hörst!« War es nicht genug, zu sehen, zu hören: von nun an? Was mich umgab, mir entgegenkam, hier und jetzt? Stand nicht schon in der Bibel: Lasst die Toten ihre Toten begraben?

    So weit schien der Gang mit dem Vater vom heutigen Tage entfernt. Ich starrte auf den Baumstamm, als könnte ich es wieder zurückschauen, das weiße Tuch und

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