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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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erste Sommer seit der Nacht auf der Lichtung. Gegen Erinnerungen hatte ich mich mit Büchern aus der Unibibliothek versorgt: Professoren über Dichter, Gelehrsamkeit über Phantasie. Hier aber, wo die Pappeln dazwischenredeten
und das Schilf, die Wellen, hier war es nicht leicht, auf den geraden Zeilen der Philologie zu bleiben.
    Die Sonne stand tief, und die Sonne stand hoch, der Strom strahlte blauschwarz und silbern und golden - wie sollte ich da die Augen zwingen in immer neue Anordnungen von sechsundzwanzig Buchstaben, wie sollte ich da begreifen, was sie in sich begriffen, wenn aus den Steinen ein Duft aufstieg wie von abertausendjähriger Wärme, zitternd das Licht durch das Weidenlaub über die Buchseiten fiel, über Jakob Böhmes Natursprachenlehre De signatura rerum , die ich aus der Unibibliothek mitgenommen hatte: »Jedes Wort formet sich von seiner Kraft, was die Kraft tut oder leidet«, las ich. »Das Wort Mer ist erstlich die strenge Herbigkeit; denn im Wort auf der Zunge verstehest du es, dass es aus der Herbigkeit knarret, und du verstehest auch, wie der bittere Stachel darinnen sei. Denn das Wort Mer ist herb und zitternd.«
    Im Verbinden der Dinge mit Wörtern nach meinen eigenen Regeln bestand ich diese Sommertage. Wörter auf die Zunge zu legen, sie zu schmecken, ihnen nachzuschmecken, sie den Dingen anzuschmiegen nach meinem Gesetz, das ließ meiner Sinnlichkeit freien Lauf, ohne mein Gefühl zu berühren. Unter der Zungenwurzel hielt ich die Wörter, wo die Blume des Mundes aufging und jedes Ding im Wort sich selbst offenbarte. So konnte ich träumend forschen, ohne zu fühlen, ein Feinschmecker von Klang und Laut, Form ohne Inhalt. Ich brauchte dazu keine Geschichten, keine Erfindungen mehr wie im Jahr zuvor, keinen Samtseestrand und keine Schönen Tage. Ich brauchte Nichts. Das war Alles. Wörter, wie wir sie kennen, pressen die Dinge in Form, trennen sie voneinander wie durch einen Axthieb. Meine Wörter brachten die Dinge wieder zusammen, ließen sie ineinanderfließen wie in der Zeit vor allen Namen.
    Geschwindes Licht machte die Wellen zu Kieseln, die Kiesel zu Wellen, Kieselregen, Wellengekräusel, Kieselgekräusel, Wellenregen. Ich richtete den Blick auf den Lichtfluss in den Pappeln und ließ mir den Baum über die Lippen fließen, Pappel,
mein Baum, rheinische Zeder, grün-weiß gemalt, von unten, von oben. Baum auf der Zunge, dein Verzäll mit dem Wind, dein Gesell. In mich hinein wuchs der Baum, Äste und Zweige, der Stamm zum Rumpf, die Beine das Wurzelwerk, und so stand ich, der Baum, bis das Licht aus den Blättern sich langsam zurückzog, aus mir herauszog, den Baum zurückzog, die Wurzeln zuerst, bis ich zuletzt wieder sah aus meinen eigenen Augen. Dort war der Baum, hier war ich, bis zur nächsten Reise von einem ins andere. Die andere Welt, die Welt der Wörter, war auch diese Welt, die Welt der Dinge. Wie die Wellen am Rhein konnt die eine nicht ohne die andere sein.
    Die Wörter, gelöst aus ihrem Alltagssinn, verloren ihre Erinnerung. Das war Erlösung. Wiesen und Kiesel, der Himmel, der Strom, die summende Stille: reine Linderung. Nichts war mehr notwendig wie die Silbe im Text; keine Funktionen, keine Strukturen. Keine Not zu wenden, wo alles richtig war.
    Die Welt lag vor mir, ein unbeschriebenes Blatt, ich ritzte meine Zeichen hinein, Welle auf Welle, Stein auf Stein, Blatt für Blatt am Baum für Baum; ein unendliches Benennen, Beriechen, Beschmecken, Einverleiben, Verdauen, Aushauchen und wieder aufs Neue. Das Sichtbare feiern - die Bäume, die Wolken, Wasser, Steine, den Rhein; die Weiden, die Kribben, Kies und Sand - und am Ende alles in Luft auflösen, Wörter, Luft; Wörter, Atem, Atemluft. Luft zum Atmen. Keine Alltagswörter mehr, die sich dazwischendrängten, zwischen mich in jedem Augenblick eines Sommernachmittags, wenn der Rhein mich in die Arme nahm und ich mit ihm und in ihm floss durch den Bogen an der Rhenania und weiter bis Rotterdam, wenn die Sonne mir die Brust hob und senkte und mich zu sich heraufzog, und mein Haar erglühte unter ihrem Biss, wenn endlich auch meine Wörter gänzlich aus den Dingen verschwanden und alles Getrennte wieder in eins floss und ich, eine winzige Menschenkleinigkeit ohne Namen, mich darin verlor, musste ich froh sein, wenn irgendwann Krähenlaute aus den Pappeln auf mich herabfielen, Dampfertuten ins Ohr sprang, eine Mücke zustach
und ich zurückkehren konnte in die Trennwelt der Wörter, der Dinge, der Menschen. Der

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