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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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gewesen. Doch dann hatte sie begriffen, kicherte und machte sächselnd mit. Auch die Frauen am Band gegenüber griffen das Sprüchlein auf, unser Gemurmel ein fernes Echo unseres Kampfgesangs von damals. Damals, als wir auf die Barrikaden oder doch wenigstens auf unsere Hocker gegangen waren, als wir Pillen hatten Pillen sein lassen und die Schachteln endlos kreisten, bis der Meister das Band abstellte.
    Daran dachten heute alle, die dabei gewesen waren, als ein paar geflügelte Tierchen mit uns in den Arbeitskampf gezogen waren. Aber zu handeln wie damals, daran dachte heute niemand. Niemand löste die Hände von Pillen und Packungen. Im Gegenteil. Unsere Hände im Takt unserer Lippenbewegungen griffen fester und fleißiger zu, verbissen stopften wir die Pillen, wohin sie gehörten, kniff und klapp und Schlaufe drauf, lööf dat Band ze flöck, und zack die Pillen hinein ins Röhrchen, die Schachtel, ze flöck, ze flöck, die nächste, die beste, die übernächste, wäde mer verröck. Wurden wir aber nicht. Emsige Bienen wurden wir, keine Spur von Hornissen. Doch plötzlich mischte sich in unsere eintönig murmelnde Litanei ein fremdländisches Stakkato. Die Griechinnen. Es klang wie douleia skata, patrida kali. Die fremden Silben machten Dampf, so ganz anders als der gebildete Donner mit Hölderlin und Sophokles in der Aula der Albertus-Magnus-Universität zu Köln. Ich nahm die Wörter zur Probe in den Mund, hart und sperrig lagen sie auf der Zunge, aber sie schossen scharf, und ich nahm sie zwischen die Zähne: »Douleia skata, patrida kali«, brüllte ich, und Lore war die Erste, die es auch versuchte, und dann folgte eine Frau nach der anderen, bis die ganze Halle heulte, lärmte, dröhnte; wer weiß, was wir da herausschrien, aber diese Silben
ballten die Fäuste, schwangen die Fäuste, rot vor Wut. Nur die Silben. Die Hände blieben im Takt.
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Meister in seinem Glaskasten zum Telefon griff, gestikulierte, die Tür aufriss, den Hörer kurz raushielt, die Hand zurückzog, als hätte er sich verbrannt, die Tür zuschmetterte, den Hörer auflegte.
    Die Hallentür flog auf. Der Mann im Eingang machte eine Handbewegung zur Meisterkabine hin, ein herrisches Abwinken. Das Band stand still. Die Maschine stand still. Unsere Stimmen standen still. Der Mann in der Tür richtete sich auf. Es war der Betriebsrat. Josef Hings, der Mann vom Hingse Billa. Bis vor einem Jahr hatte er noch als Hingse Jüppsche im Lager den Gabelstapler gefahren. Wenn du wüsstest, dass ich weiß, dass deine Frau im Mini-Markt nicht bezahlen konnte!
    So viel leichter war es gewesen, damals gegen den Prokuristen anzubrüllen. Anzubrüllen gegen Zweireiher, Krawatte, Uhrkette und Brusttuchzipfel. Der Betriebsrat steckte im Kittel. Wie wir. Er war einer von uns und auch einer von denen da oben. Unterm Kittel trug er ein weißes Hemd, Nyltest, bügelfrei, preiswert. Den Strickschlips gelockert am offenen, innen leicht gelblich verfärbten Kragen.
    »Kollejinnen!« Der Betriebsrat griff sich an den Hals, schloss den Kragenkopf, schob den Schlipsknoten hoch und zog ihn an; ruckte Hals und Rumpf in entgegengesetzte Richtungen: Der Knoten saß in der Mitte. Klopfte den Schlips von oben bis unten mit den Fingerspitzen ab. Gespannt und gelassen verfolgten wir jede Geste, weideten uns an der Verlegenheit des Mannes, den die meisten von uns als braven Ehemann und Kirchgänger kannten. Schon hatte er feine, rosarote Schreibtischbäckchen angesetzt, nur das falsche, leutselige Vorgesetztenlächeln konnte er noch nicht nach Belieben auf- und abrufen.
    »Kollejinnen!«
    Nun muss er sich räuspern, dachte ich, und das tat er auch. Lange und umständlich.

    Doch nicht auf den Betriebsrat richteten sich die Blicke der Frauen. Die Frauen sahen auf mich. Sollte ich? Wie damals? Wer streikt, wird entlassen. Ich hatte meinen Tausender. Ich konnte es mir leisten, meinen Platz hier zu verlieren. Die anderen konnten das nicht. Ich konnte die Suppe einbrocken, auslöffeln mussten sie die anderen. Für mich allein den Mund aufzumachen, wäre leicht, ja, eine Lust gewesen. Pure Verlockung. Ich hielt ihn geschlossen. Und biss die schiefen Zähne zusammen.
    »Kollejinnen!«
    Hier sprach einer unsere Sprache. Wenn wir nur unseren Ohren trauten. Denn was er in unserer Sprache sagte, sprach die Sprache derer da oben. Warnungen. Drohungen. Eine Kündigung wurde als gemütlicher Daktylus, als Kündijung, nicht harmloser. Einer Entlassung nahm

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