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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zu dir hält«, an die Spitze des Bandes, Kopf der Bewegung, »dam dam, dam dam«. Daumen nach oben, bewegte er die Fäuste vor der Brust wie ein Säugling seine Rassel. »Marmor, Stein und Eisen bricht«, Lore ließ die Pillen fallen, Traudchen griff erst gar nicht mehr zu, es hielt uns nicht mehr auf unseren Hockern, »aber unsere Liehiebe nicht!«, grölten wir, krümmten unsere Finger nach innen, Daumen drüber, fünf Finger sind eine Faust. Noch ballten wir sie unterm Tisch in unseren Werkskitteltaschen. Doch am anderen Ende des Bandes wurden die Fäuste nicht versteckt, »dam dam«, schrien die dunklen Frauen da unten, geballte Faust Richtung Hallendecke, und da rissen auch wir die Hände raus aus dem Kittel und Fäuste rein in die Luft. Verzweifelt fuchtelte der Meister Protest, als ahme er das Stampfen der Packmaschine nach. Doch wir hielten die zweite Strophe »Kann ich einmal
nicht bei dir sein« mit gereckten Fäusten im Takt durch, »Denk daran, du bist nicht allein. Dam dam.« Der Meister rannte zum Telefon. »Alles, alles geht vorbei«, versicherte die treuherzige Männerstimme aus dem Lautsprecher, geigenverstärkt, »doch wir sind uns treu …«. Das waren nur noch unsere Stimmen, dünne, erschöpfte Frauenstimmen, die nach dem Lautsprecherbass wie letzte Hilferufe versprengter Seelen klangen. Wir ließen die Fäuste sinken. Die Werksirene. Schichtende. Das Band stand still. Zwei Strophen von Marmor, Stein und Eisen bricht waren liegen geblieben.
    Die Griechinnen saßen schon wieder; unten bei ihnen hatte sich das meiste gesammelt. Aber sie rührten keinen Finger. Wir standen unschlüssig, schauten zur Meisterkabine. Der Mann tat beschäftigt, nahm keine Notiz von uns.
    Lore ließ sich auf ihren Sitz fallen. »Schiebt mal rauf!«, winkte sie den Griechinnen zu. Wir setzten uns noch einmal. Spürten die Anstrengung in Händen und Schultern bis in die Fingerspitzen. »Dam dam, dam dam«, summte es in unseren Ohren. »Dam dam«, klopfte eine der Griechinnen auf das starre Band wie auf einen müden Gaul, und wir lachten, und »dam dam« legten wir wieder los. Diesmal trauten wir unseren Stimmen, und als Lore uns alle überstimmte: »Die da oben kriejen uns nischt!«, schoss der Meister aus der Kabine, rasselte mit dem Schlüsselbund und brüllte: »Feierabend!« Doch wir lächelten die dunklen Frauen am unteren Ende des Bandes an, nickten ihnen zu, sie lachten zurück, und wir sangen das Lied bis zur letzten Pille seelenruhig zu Ende: »Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.«
    Und das blieben wir auch. Gemeinsam verließen wir die Halle. An diesem Nachmittag bekamen unsere Griechinnen endlich Namen. Heimat. Herkunft.
    Vor den Spinden trödelten wir so lange herum, bis wir einiges von ihnen erfahren hatten. Elephteria, die Älteste, eine hakennasige, hochgewachsene Person, die langen schwarzen Haare, schon von silbrigen Fäden durchzogen, straff aus dem Gesicht gebunden, führte das Wort. Sie kam aus Rhodos. Insel
des Helios, hätte Rebmann hinzugefügt. Für Elephteria war Rhodos ein Photo, das sie umständlich aus einem abgewetzten Portemonnaie nestelte und in unsere Mitte hielt. Eine alte Frau kreuzte die Hände über der Brust eines etwa vierjährigen Mädchens, ein alter Mann legte sie einem wenig älteren Jungen auf die Schulter. Elephteria schaute das Photo kaum an, ließ es aber keinen Moment aus den Fingern, den Daumen fest aufgedrückt.
    Ihr Mann, erfuhren wir, war in einem Sturm auf See ertrunken. Der karge Hof ihrer Eltern zu wenig zum Leben zu viel zum Sterben. Elephteria war jetzt der Mann im Haus, die Person, die für die Kinder sorgen musste. Ich begriff, warum sie das Photo nicht ansah. Das Photo war Vergangenheit und hielt den Gedanken an die Zukunft wach. In der Gegenwart erzeugte es Schmerz.
    Anders als für Frauen, die ihren Männern folgen wollten, war es für Elephteria leichter gewesen, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Paare wurden von den Behörden nicht gern gesehen. Sie könnten an Deutschland zu viel Gefallen finden und bleiben wollen. Deutsche Gesetzgeber, lernte ich von Lore, waren an einem unbegrenzten Aufenthalt nicht interessiert. Sie suchten nur die Arbeitskraft. Kehrten die Menschen zurück, brauchte man ihnen keine Rente zu zahlen, obwohl die Gastarbeiter genauso in Renten- und Krankenkasse einzahlten wie ihre deutschen Kollegen.
    »Ihr mich alle einmal besuchen«, sagte Elephteria finster, »dann sehen, wie hier wohnen.«
    Sie stellte uns auch die

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