Aufbruch - Roman
nit einjebildet.«
Wieder Klopfen auf Holz, Krachen, Splittern. Ein zweites Ei.
»Aber besser anziehe könnt et sisch.« Das war nun wieder Lore, die mich jeden Morgen vorwurfsvoll musterte.
»Dat sind mir dem nit wert.«
Der Lauscher an der Wand, fuhr es mir durch den Kopf, und ich wäre am liebsten durchs Gebüsch gebrochen. Aber es kam noch schlimmer.
»Jo, e lecker Mädsche is et«, führte Lore das Thema zum Kern zurück. »Wenn nur die Zäng nit wäre.«
In die Hochgestimmtheit der letzten Tage traf mich dieser Satz wie ein Schlag auf den Kopf. Kaum hörte ich durch das Rauschen in meinen Ohren die Antwort Traudchens: »Dat Kind kann doch nix dofür. Die Zähn sind doch stark und jesund.«
Und Lore darauf: »Da has de rescht. Ävver kromm und scheef durschenander.«
Die Klingel schrillte.
Füße scharrten. »Mir müsse.«
Die Pause war vorbei. Dahin war auch mein Zehenspitzen-Ballerina-Gefühl. Erbittert tastete meine Zunge die Vorderzähne entlang, unten, wo sie sich drängelten und einander den Platz im Kiefer streitig machten, oben, wo vier Zähne in lächerlicher Drehung gegeneinander standen. Auch mein Tausender würde mir nicht zu jener auftrumpfenden Unbefangenheit, dem zahnstrahligen Charme meiner blonden Kommilitonin verhelfen. Ich war dat Kenk vun nem Prolete. Bis in die Zähne. Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, und das Schöne blüht nur im Gesang. Stumpf griffen meine Hände nach Pillen und Röhrchen, ich kam nicht mehr nach, eine Schachtel nach der anderen musste ich unter den Tisch fegen.
Missmutig klaubte ich in der Pause die Einzelteile unterm Fließband hervor und machte weiter, während die anderen an die frische Luft drängten.
Kaum hatte ich mein Brot aus der Dose geholt - es war immer noch die blankpolierte Blechbüchse des Großvaters -, baute sich Lore hinter mir auf: »Du willst et doch nit mache wie die do!« Lore ruckte den Kopf in Richtung von vier Arbeiterinnen, die seit Tagen in den Pausen stur weiterpackten. »Dat hier«, sie wischte Pillen und Schachteln wieder unter den Tisch, »machen mir zusammen nach Feierabend fertisch. Isch helf dir.«
»Die verdammte Wiewer«, schimpfte Lore, kaum dass wir den Frauen den Rücken gekehrt hatten. »Kumme aus Griescheland und mache uns hier dä Akkord kaputt.« Vier Wochen seien die jetzt dabei und noch kein Wort gewechselt. Wie angeklebt säßen sie am Band, ich sähe es ja selbst; nicht mal aufs Klo trauten sie sich, weil sie fünf Pfennig weniger verdienen könnten. Einen Schnitt von hundert Schachteln hätten die Dondorfer Frauen gehabt und jetzt seien es hundertzwanzig, weil die Kanaken gepackt hätten wie die Blöden. »Da haben die da oben den Akkord einfach raufjesetzt.« Lores Stimme wurde schrill. »Mir wollten ja auch streiken, so wie damals, weiß de noch, wie mir dä Luchs rausgebrüllt haben! Und dann die Wespen!«
»Hornissen«, warf ich zwischen den Zähnen ein.
»Rischtisch. Hornissen!«, bestätigte Lore, als füge das dem Sieg den letzten Triumph zu. »Hornissen! Die Diersche sind dem Kääl jo fast in de Muul jekroche!«
Lore lachte ärgerlich. Auch diesmal habe man wieder streiken wollen, den Streik sogar angekündigt, wie sich das gehört. Aber da hätten die da oben ganz kühl gesagt: ›Wer streikt, kann seine Papiere holen. Die Gastarbeiter stehen vor der Tür.‹ In die Putzkolonne wollten sie uns schieben!« Lore biss aufgebracht in ihr Brot, setzte die Seltersflasche an den Mund.
»Und der Betriebsrat?«, wandte ich ein, meine Zähne beinah vergessend, »ihr habt doch jetzt einen Betriebsrat!«
»Betriebsrat?« Lore schnaubte. »Dat isch nit lache! Dä is nur für die Kanake do. Damit macht dä sisch lieb Kind bei denen da oben. Und er sacht, er tut wat für die Unter Unterprilivi …, ah wat: für die Kanake!«
In meiner Tausend-Demark-Euphorie war mir die neue Geschwindigkeit des Bandes nicht aufgefallen. Mit der Zunge an den Zähnen hetzte es mich wie die anderen Frauen auch. Was nutzte mir das Sparbuch. Tausend Demark würden meine Zähne nicht in Reih und Glied kommandieren, ein Fließband weder beschleunigen noch verlangsamen können. Tausend
Mark - das war ungefähr so viel, wie wir Frauen hier gemeinsam an einem halben Tag verdienten. Und was verdiente der, der das Fließband schneller laufen ließ?
»Lööf dat Band ze flöck, wäde mer verröck!«, murmelte ich ein wenig lauter. Lore hatte verstanden und fiel ein. Frau Moll neben ihr stutzte. Sie war damals noch nicht hier
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