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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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das kölsch gerollte L nichts von ihrer Beängstigung. Wörter wie Absatzlage, Tarifvertrag, Ecklohn, Leichtlohn, Produktionsablauf, Werksleitung klangen, als hätten sie sich den dörflich vertrauten Mund gewaltsam unterworfen, ihn erobert, und die Eroberer verfehlten ihre Wirkung nicht. Von Wort zu Wort fremder wurde uns der altbekannte Nachbar, daran änderte der vertrauliche Tonfall nichts. Die fremden Wörter rückten den Mann von uns weg auf die andere Seite. Unter Lohnkosten, Kapitalkosten, Personalkosten schmolz mein Tausender wie Schnee im April. Rendite, Steuern, Sockelbetrag: Die Frauen zogen die Köpfe ein, blickten in den Schoß, auf die Hände, zuckten nach Schachteln und Pillen.
    »In einem Boot« Der Betriebsrat ruckte den Schlipsknoten noch ein Stück höher. In einem Boot.
    »Frohes Schaffen«, wünschte er uns, und: »Maad et jut!« Im Hinausgehen riss er sich den Schlips herunter und steckte ihn in die Tasche, fuhr sich mit zwei Fingern in den Nacken und zerrte den Kragen vom Hals.
    Das Band lief an, das Boot lief aus. Wir stürzten uns auf die Schachteln, wie erlöst. Alles war besser als diese vertraute Stimme mit den fremden Wörtern, jeder Satz ein Vorwurf an jede Einzelne.

    Lore reckte als Erste lauschend den Kopf. Sie saß direkt unter dem Lautsprecher, und dann hörten wir alle das Knistern, dann Gitarren und Geigen, und dann sang Nana Mouskouri Weiße Rosen aus Athen . Weiße Rosen aus Athen fielen wie kühlende Tropfen in die schwüle, staubige Halle auf unsere Hände, die Pillen, Schachteln, das Fließband. »Sagen dir: Komm recht bald wieder.« O, ja, er würde wiederkommen, Betriebsrat Hings, und er würde neue Wörter zur Verstärkung der alten im Munde führen. Doch jetzt hatten die weißen Rosen das Wort, und wir waren dankbar für dieses Friedensangebot.
    Den Athener Blüten folgten Zwei kleine Italiener, ein Cinderella Baby im Café Oriental in Santo Domingo, und während die Frauen begeistert mitsangen, wurde ich den Verdacht nicht los, dass durch die Schlagerblume eine subtile Drohung mitschwang: Señoritas, Muchachas, Signorinas, aus Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland konnten Lieschens und Mariechens jederzeit ersetzen.
    Das Tonband lief und lief. Lieferte Töne wie das Band die Pillen. »Die Liebe ist ein seltsames Spiel«, johlten wir, »sie kommt und geht von einem zum andern«, und der Meister drehte, »Mitsou, Mitsou, Mitsou«, eine Runde durch die Halle wie ein sahnesatter Kater, »mein ganzes Glück bist du«, ehe er in seinem Kasten wieder zum Hörer griff.
    Die Frauen kannten jedes Lied. »Junge, komm bald wieder«, schickten wir dem Meister hinterher und »Der Platz neben mir gehört dir«, denn: »Mit siebzehn fängt das Leben erst an«. Niemand schaute mehr auf die Uhr. »Schwarzer Kater Stanislaus, Schnurre-Di-Burri-Di-Bum!« schlich »Muhuhunlait, die Nacht ist schön« über die Dächer und miaute nach »Pigalle, Pigalle, das ist die große Mausefalle mitten in Paris«. Wo die »Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe« die Pillen ins Röhrchen, die Röhrchen in die Schachteln strippte, »Siebentausend Rinder« vom Fließband in die Fingerspitzen wippten, »Juanita Banana« kniffte einmal längs, zweimal quer und rein mit dem Beipackzettel; »Sprich nicht drüber«, rechts herum, links herum, fertig
die Packung, »Wir wollen niemals auseinandergehn« und »Speedy Gonzales« zurück aufs Band. Und niemand fragte mehr »Quando, quando, quando?«.
    Wir saßen am Band und saßen am Strand, Pillen in der Hand, das Glück in der Hand, in der Pillenpackhalle im Wunderland.
    »Auf Matrosen! Ohé!«
    Da hielten wir den Mund, hörten einfach nur zu, ließen uns von Hans Albers, seinem Akkordeon und der Sehnsucht forttragen, unsere Herzen gingen an Bord »in die blaue Ferne. Unter mir Meer und über mir Nacht und Sterne«, und Annegret aus Cuxhaven sang für uns alle mit: »Seemanns Braut ist die See, und nur ihr kann er treu sein. Wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der Großen Freiheit Glück«, und ich malte mir aus, wie ich mit meinem Tausender um Kap Hoorn und »hoch vom Mastkorb … zurück darf kein Seemann schaun«.
    Schließlich, kurz vor Schichtende trugen milde, melancholische Streicher eine sämige Männerstimme in die Halle: »Weine nicht, wenn der Regen fällt«, und wir packten zu und brüllten »dam dam, dam dam«, bis es auch den Meister nicht länger in seinem Verschlag hielt. »Dam dam, dam dam«, setzte er sich, »es gibt einen, der

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