Aufbruch - Roman
Bekannte: Heuchler und Egoisten, selbstgerechte Pharisäer.
Zugegeben, hielten Astrid und ich dagegen, »aber musste man deshalb ein nichtsnutziger Versager werden? Immer neue Sündenböcke finden, bis schließlich sogar noch die katholische Kirche herhalten muss? Selbst der sonst so stille Alois Fromm sprang uns bei. Niemand machte seinem Namen größere Ehre als er. Er wollte Priester werden und ließ unsere gelegentlichen Hänseleien mit gottseliger Geduld über sich ergehen, Prüfungen, die ihm gerade recht kamen, dem Allerhöchsten seine demütige Gefolgschaft zu beweisen.
Mich empörte vor allem, dass dieser Schnier sich auch noch etwas darauf zugutehielt, das Mädchen Marie, dessen Ausbildung sich der verarmte Vater buchstäblich vom Munde abgespart hatte, kurz vor dem Abitur zu verführen. Dieses entlaufene Unternehmersöhnchen verdiente meine Verachtung.
Und Marie?, so die drei. Hatte sie nicht eingewilligt?
»Ja«, musste ich zugeben. Letzten Endes war sie an ihrem Unglück selber schuld.
Selber schuld. Das war das Stichwort. War Hans Schnier an seinem Unglück selber schuld? War er, ein antriebsloser Egoist, ein Versager, Leichtfuß und Taugenichts, genauso rücksichtslos und selbstgerecht wie seine Mutter, der er gerade diese Eigenschaften vorhielt? Hatte er sich nicht an Marie genauso versündigt wie die Mutter an seiner Schwester Henriette, als sie diese noch kurz vor Kriegsende zur Flak gehen ließ? War nicht der ganze Roman eine Schilderung der verschiedenen Spielarten des Egoismus, der eitlen Selbstverliebtheit, selbstgerechter, naseweiser Besserwisserei?
Aber er habe doch Marie geliebt, wandte Anke temperamentvoller denn je ein; er habe für sie gesorgt, und nicht er habe sie, sie habe ihn verlassen.
Liebe?, höhnten Astrid und ich. Sei das Liebe, wenn Schnier seiner Marie die Zukunft verbaue, nur um sein »fleischliches Verlangen«, wie Böll es nannte, zu befriedigen? Wie zuwider er mir war, dieser Schnier, der auf seinem Nichtverheiratetsein so selbstgefällig herumritt, als sei das ein ganz besonderes Verdienst. Tante Berta, dachte ich, hätte ihm gehörig den Kopf gewaschen. Eine ganz normale Gemeinheit war das. Und außerdem, setzte ich noch eins drauf, ziemlich kitschig das Ganze. Von wegen »fleischliches Verlangen«. Bei Böll werde nur geweint und Bettlaken gewaschen.
Mit den Ansichten eines Clowns machte ich eine neue Leseerfahrung. Ich lernte, gegen den Strich zu lesen. Hatte ich bislang in den Büchern nach Vorbildern gesucht, nötigten mir die Personen in diesem Buch eine neue Haltung ab: so nicht. Nicht ich. Nicht mit mir. Lesen hieß nicht mehr aufsaugen, genießen, eintauchen, schwelgen, eingehen in die Gegenwelt. Es hieß auch: Position beziehen, Standpunkte suchen. Einen eigenen festen Boden unter den Füßen finden.
Ich setzte mich mit den Figuren auseinander, mit ihren Lebensentwürfen, ihren Wünschen und Absichten und machte mir im Widerspruch zu den ihrigen die meinigen klar. Vor allem eines: Ich wollte nicht enden wie Marie. Weder ein Versager wie Schnier noch eine »Zierde der Gesellschaft« wie Züpfner, der Parvenü, sollten mich von meinem Weg abbringen. Auch kein Godehard van Keuken. Selbst wenn er mir nicht aus dem Kopf ging.
»Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie neulich hier im Laden waren?«, überfiel mich der Buchhändler bei meinem nächsten Besuch. »Herr van Keuken hat schon ein paarmal nach Ihnen gefragt.«
»Naja«, meinte ich, »Doktorand, Geologie …«
»Das auch«, Buche nickte ungeduldig. »Aber van Keuken! Van Keuken!« Seine Stimme wurde beinah schrill, um dann zu einem Flüstern abzusinken: » Der Keuken.«
Ich sah den Buchhändler verständnislos an.
Kopfschüttelnd machte Buche einen Schritt auf mich zu. » Der Keuken«, wiederholte er. »Kuchen kauft man nur bei Keuken. Und: Kein Kaka-o-Trank ohne Keuken. Na, klingelt’s?«
»Keuken? Nein.« Was hatte das Kindergesicht auf Kakaotüten, Schokoladentafeln und Pralinenschachteln mit Godehard zu tun?
»Der Er-be!« Beinah singend zelebrierte Buche die beiden Silben.
Unwillkürlich sah ich Godehard an einem Riesenknusperhaus aus Vollmilch-Nuss, Krokant und Nougat schlecken. Ich lachte.
»Genau. Wer den mal kriegt, der hat gut lachen«, bestätigte der Buchhändler mit unangenehmer Vertraulichkeit in der Stimme; dann, als wolle er wieder etwas gutmachen, präsentierte er mir den Erzählband Jean-Paul Sartres, Die Mauer , und war wieder der Alte.
»Darf ich Ihnen ja eigentlich gar
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