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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Großvater zu heilen, hatten wir vor Jahren heimlich den Kopf von ihrer Muttergottes aus Lourdes abgeschraubt und das geweihte Wasser daraus in ein Fläschchen für Liebesperlen umgefüllt. Doch die Großmutter kippte das geweihte Nass ahnungslos in den Rhabarber. Der Großvater starb. Der Rhabarber strotzend wie nie.
    »Dat ärme Hannelore. Hätt ken Mama mehr!«, schloss die Mutter ihre Wehklagen.
    »JelobtseiJesusChristus.« Die Großmutter klopfte den Schichtkäse überm Rübenkraut auf dem Schwarzbrot mit dem Messerrücken fest.

    »Aber wat jlaubs de, wat dat für en Beerdijung jibt!« Die Stimme der Mutter träumerisch von kaum verhaltener Vorfreude.
    Die Tür ging auf. Der Vater. Er nickte mir kurz zu, brummte etwas, das klang wie: »Ihr sitz jo noch immer hie«, schnappte sich ein Stück Brot, ein Stück Käse und verschwand wieder in seinem Schuppen. Dort, bei seinen Werkzeugen, bei Schraubstock, Feilen, Zangen und Sägen fand er Zuflucht wie ich im Holzstall bei meinen Büchern. Mit ihm kam der Geruch nach öligem Drillich und Arbeitsschweiß in die Küche. Ich ließ meinen Godehard-Luftballon los. Dondorf, Altstraße 2. Ich war wieder gelandet.
    Während Mutter und Großmutter den Tisch abräumten - nie hätten sie zugelassen, dass ich dabei half -, schlich ich vor den dreiteiligen Spiegel der Kommode im Schlafzimmer der Eltern. Hildegard Palm, ziemlich klein, aber alles dran. Das Beste: die Augen. Ich löste meinen Zopf, dunkel und dicht fiel mein Haar weit über die Schultern. Lächelte mein Spiegelbild mit geschlossenen Lippen an, wie ich zu lächeln gewohnt war, seit der Vater die Zahnspange zerquetscht hatte. Gar nicht so schlecht, befand ich. Prüfung bestanden.
    Abends im Bett erzählte ich Bertram von meinem Geschenk. Noch immer teilten wir das kleine Zimmer, die Betten nur durch einen schmalen Nachttisch getrennt; unser gemeinsamer Ort ins verschwiegene Dunkel geflüsterter Kümmernisse, hier durfte zur Sprache kommen, was vom Tage im Halse stecken geblieben war.
    »Klingt, als hättst du die Geschichte aus nem Buchstein gelesen.« Ich glaubte, den Bruder grinsen zu sehen. »Der gefällt dir wohl? Ich dachte schon, der Sigismund hätt dir dein Heherrz gebrrohochen.«
    »Blödsinn! Schlaf jetzt!« Ich rollte mich auf die Seite, Knie unters Kinn.
    »Bona nox, sororcula. Gute Nacht, Schwesterchen. Somnia dulciter. Träum süß.«

    Das tat das Schwesterchen nicht. Lange lag ich wach und grübelte, ob mir am Ende der gelbe Pulli, unter dem ein rosenholzfarbener Kragen, die Ecken geknöpft, hervorsah, nicht doch besser gefallen hatte als Godehards Campari-Gesicht, die Manschetten mit den goldgefassten blauen Ovalen besser als die Hände. Lapislazuli hießen diese Steine, hatte ich gelernt. Lapislazuli: Was für ein schönes Wort. Was gefiel mir besser: Wort oder Stein? Über dem Zwiespalt, was ich lieber berühren würde, Godehards Haut oder den weichen Flaum seines Kaschmirpullis, schlief ich ein.

    Rebmann hatte für die Klasse Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns bestellt. Vor unser aller Augen öffnete er das Buchpaket, stapelte die Exemplare vor sich auf und entfernte einen Schutzumschlag nach dem anderen mit seiner einen Hand, als zöge er dem Buch das Fell über die Ohren.
    »Wenn wir hiermit durch sind«, sagte er, »gibt es die Lappen dazu. Keine Sorge. Aber erst einmal wird ohne Wanderkarte gelesen.«
    Ich verstand ihn. Oft traf ich im Kölner Dom auf Menschen, die, einen Domführer in der Hand, blindlings bestrebt waren, aufzuspüren, zu begutachten, was sie zuvor gelesen hatten.
    Über den Ansichten eines Clowns kamen auch die in Fahrt, die mit Wilhelm Tell, Emilia Galotti oder Werther wenig anfangen konnten: Clas, der schon als Chemielaborant gearbeitet hatte; Axel, der Apothekerssohn; Hubert, der einmal die Kanzlei seines Vaters übernehmen sollte und hier eine letzte Chance zum Abitur hatte. Clas, Axel und Hubert nahmen forsch und entschieden Partei für den Ich-Erzähler Hans Schnier; von scharfzüngigen Argumenten zur Verteidigung ihres Helden bis zu plumpen Verdammungen seiner Gegenspieler.
Anke und Monika neigten diesem Urteil zu, während ich mich unerwartet einer Meinung mit Astrid fand. Uns hatte die offenbare Sympathie, die der Erfinder Heinrich Böll diesem Sohn aus gutem Hause entgegenbrachte, jedenfalls nicht angesteckt. Eltern und Umstände, die Gesellschaft hätten ihn zu dem gemacht, was er sei, so die drei. Er habe nicht so werden wollen wie seine Eltern und deren

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