Aufbruch - Roman
Leben gelernt.
»Wo noch vor gar nicht langer Zeit Geld und allenfalls die persönliche Leistung den Wert eines Menschen bestimmte, sieht man heute schon wieder auf gewandtes Auftreten und tadellose Umgangsformen.« Jawohl! Ich wollte nicht »an den Klippen des guten Tons von vornherein zum Scheitern verurteilt« sein. Kaum etwas, woran man nicht scheitern konnte. Hatte ich bislang geglaubt, es genüge, das Essen mit Messer und Gabel zu beherrschen, schreckte mich Frau Dr. Gertrud Oheim nun wieder aus meiner vornehmen Ruhe auf. Zum Beispiel die Serviette. Gab’s bei uns nicht. Das Stückchen hatte es in sich: »Die Serviette, ob es nun eine Stoff- oder Papierserviette ist, wird erst entfaltet und auf den Schoß gelegt, wenn die Speisen aufgetragen sind und das Essen beginnt. Sie gehört weder in den Kragen oder Halsausschnitt noch zwischen die Westen- und Blusenknöpfe. Bei appetitlich essenden Menschen wird es nie nötig sein, sich mit der Serviette den Mund abzuwischen. Sie ist auch nur dazu da, etwa vor dem Trinken den Mund etwas abzutupfen und im Übrigen Kleid oder Anzug zu schützen. In besonderen Fällen hat man ja auch sein Taschentuch bei der Hand.« In besonderen Fällen? Was mochte damit gemeint sein? Kotzen? Knochen? Fleisch, so zäh, dass man die zerkaute Masse ausspucken durfte? »Nach dem Essen wird eine Papierserviette leicht geknüllt auf den Essteller, die Stoffserviette lose zusammengefaltet neben den Teller gelegt. Es ist unmanierlich, sie unordentlich zerknüllt, und unnötig, sie pedantisch zurechtgefaltet hinzulegen. Selbstverständlich muss man Servietten, die am Familientisch oder in Fremdenpensionen zum täglichen Gedeck gehören, sauber zusammenlegen und in den dazugehörenden Ring oder eine Tasche stecken - auch das sind kleine Hürden des guten Tons, an denen mancher scheitert.«
Ich nicht.
Godehard hatte inzwischen zu einem Vortrag angesetzt. Derlei kleine Vorträge hielt er gern, das war mir schon bei unserem Besuch in der Milchbar aufgefallen. Genau zuhören musste ich nicht, meist ging es um Steine. Lügensteine hörte ich. Mehr als zweitausend gebe es davon, sehr selten seien sie. Kaum noch zu finden. Seine Stimme floss gleichförmig dahin, Nieselregen ließ die Landschaft draußen verschwimmen, wie mir Godehards Sätze verschwammen in einzelne Wörter, kristallin und derb hörte ich, körnig und nierig, Drusen, Kristall, komplizierte Silben, Ilmenit, Korund, Spinell, geheimnisvolle Laute, meist endend auf -it.
Steine konnten nun wirklich nicht lügen, erzählen ja, unendliche Geschichten, vielleicht wollte er mich foppen, so, wie der Bruder mich hinters Licht führen konnte, mit den unwahrscheinlichsten Geschichten.
Nein, Steine konnten nicht lügen. Anders als Wörter. Die gesprochenen Wörter. Schall und Rauch. Wann hatte ich je erfahren, dass ich mich auf das gesprochene Wort verlassen konnte? »Steh auf!«, hatte Mohren gesagt, und Rosenbaum und Kreuzkamp hatten mich mit ihren Worten aus dem Büro befreit. Aber sonst? »Et tut nit weh«, hatte die Mutter versichert, bevor dem Lappen überm aufgeschlagenen Knie brennender Schmerz folgte; mit »Isch sach nix dem Papa« Bertram und mir Geständnisse entlockt, die sie stehenden Fußes weitertrug. »Wenn de brav bis, darfs de dat schöne Kleid anziehe«, am Freitag versprochen, am Sonntag gebrochen. Folgten den Worten wirklich Taten, waren es Ankündigungen von Strafen gewesen: »Waat, bes mer daheem sind! Wenn dat dä Papp hürt!« Und mit Sigismunds Schwüren war es mir nicht besser ergangen.
Auf gute Wörter verlassen konnte man sich nur in den Büchern. Da hatte ein jedes seinen Platz, seine unverrückbare Bedeutung.
Anders im Leben. Nicht nur für Versprechen und ihre Missachtung galt dieser Übelstand. Wurden Wörter erst einmal gesprochen, waren sie gefährdet und konnten gefährlich sein.
Gesprochen wurden sie wandelbar, verformten sie sich auf dem Weg vom Mund ins Ohr des Gegenübers, nahmen eigene Bedeutungen an in dessen Gehirn, verfärbten sich in seinem Kopf, wie ich es nie voraussehen konnte. Wie fügten sich die Wörter in das Vokabular seiner Seele? Welche Erfahrungen hatte der Angesprochene mit diesen Wörtern gemacht? Waren sie den meinen ähnlich? Lagen Wörter und Taten fest aufeinander? Enttäuschten die Wörter die Taten? Die Taten die Wörter? Straften Taten die Wörter Lügen?
Der Wörterschall, die Außenwelt des Wortes. Messbar. Unfehlbar. Wie aber sah es für den Hörer im Innern des Wortes aus?
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