Aufbruch - Roman
Strom auf die Stümpfe, und beißender Schmerz schoss mir Tränen in die Augen.
Meinen Matchbeutel mit Tschirchs Sprachgeschichte unterm Kopf, mein Gesicht halb im Licht, halb im Schatten der Weidenzweige, sog ich den strengen Geruch der sonnendurchglühten Brennnesseln ein, die zwischen Gras und Schilf das Ufer erobert hatten. Blieb liegen, gedankenlos, regungslos, körperund kopflos, spürte, wie das Sonnenlicht an Umfang zunahm, und rückte weiter in den Schatten, der sich wie einst das kühlende Taschentuch des Großvaters über mein Gesicht legte. Durch den Filter der Weidenblätter herab floss das Licht auf meine Lider, tastete über die Augendeckel und malte mir runde Kreise in tiefen Farben auf die Netzhaut.
Drei Stunden musste ich warten, bis ich meine Brötchen mümmeln durfte. Zittrig riss ich das Gebäck in mundgroße Stücke,
bemüht, die Lippen nur beim Ausatmen zu öffnen, schob mir die weichen Bissen weit nach hinten in die Backentaschen, als wären der feilenden Frau nicht nur zwei Vorderzähne zum Opfer gefallen, und versuchte zu vergessen, was ich mir angetan hatte.
Übers Wasser trug der Wind das Tuten der Kähne - ach, wer da mitfahren könnte, weg vom nächsten Besuch bei Dr. med. dent. Amanda Kritz, weg von »Wat häs du denn jedonn«, das mich zu Hause erwarten würde, weg von krummen und geraden Zähnen, weg von Kintribiss und Hilla Selberschuld, weit, weit weg, den Rhein hinunter bis Rotterdam und weiter, wo das Meer den Himmel einholt.
Großmutter und Mutter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: »Woher has de denn dat viele Jeld?«
»Maternus«, antwortete ich kurz.
»Dat schöne Jeld! Für so ene Quatsch! Jitz wore dir och ald de Zäng nit mi jood jenuch.«
»Ne Alpakamantel«, seufzte die Mutter.
»Nach Lurdäs!«, rief die Großmutter, oder nach Fatima könne man für zwei falsche Zähne pilgern, einmal im Leben zu päpstlich geweihter Stätte und nicht immer nur nach Kevelaer. Doch dann besann sie sich einer würdigeren Verwendung und rechnete mir vor, wie vielen Heidenkindern der Betrag zweier Vorderzähne zum heiligen Sakrament der Taufe hätte verhelfen können.
Auch der Vater schüttelte den Kopf, knurrte unverständlich. Ihm verschloss die Erinnerung an die Zahnspange den Mund.
Bertram kam erst spät aus Möhlerath vom Besuch eines Freundes zurück. Wir lagen in den Betten, ich hatte kaum hörbar »Schlaf gut!« genuschelt, da knipste ich das Nachttischlämpchen noch einmal an. Hockte mich Bertram, der sich schon die Decke über die Ohren gezogen hatte, breitbeinig auf die Brust, tippte ihm auf die Stirn und grinste den Auffahrenden mit restlos entblößten Zähnen an.
»Hilla!«, schrie Bertram. »Bist du gestürzt? Mit dem Fahrrad?«
»Denkschte«, zischte ich hocherfreut. Die Überrumpelung war gelungen. »Kuck dschoch mal genau hin.«
Mutwillig hielt ich ihm die Zacken entgegen.
»Da steht ja noch was!«, rief er entgeistert. »Da ist ja noch was übrig. Dann ist es ja nicht so schlimm. Kronen drauf und fertig. So was zahlt die Kasse. Der Toni …« Bertram setzte zu einer seiner Geschichten an; ein Klassenkamerad hatte sich beim Sport einen Vorderzahn ausgeschlagen. »… konnte nix dafür.« Seine Bestürzung bekämpfend, zwang er sich zu einem zweiten, schärferen Blick auf die Stummel und fragte in einem Tonfall, der neben Entsetzen und Mitleid auch Ungläubigkeit ausdrückte: »Oder war das bei dir etwa Selbstverschulden? Dann wird nix gezahlt.«
»Betscham«, zischelte ich, mich wieder in mein Bett zurückziehend, »Schelbschverschuldschen isch gusch«, versuchte ich zu scherzen, »isch war beim Schahnarsch.«
»Nein! Wirklich?«, empörte sich Bertram. »Das muss ja ein Arsch sein!« Kraftausdrücke gebrauchten wir sonst nie. Bertram musste außer sich sein, wenn er meinen aus der Not geborenen Versprecher so bereitwillig aufgriff.
»Bei wem denn?«
»Bei der Kritsch.«
»Mann, Hilla! Der ist doch nicht zu trauen.« Bertram wand sich aus der Bettdecke und kehrte sich mir nun vollends zu. »Die ist doch dafür bekannt, dass sie jedem, den sie auf den Stuhl kriegt, ein Gebiss verpasst. Kannst froh sein, dat de noch jet en der Muul häs.«
»Betscham«, seufzte ich. »Die Schähne waren doch scho krumm. Un dann die Schahnschpange.«
Bertram schwieg. Legte sich zurück, zog die Decke wieder hoch. »War das denn so schlimm?«, fragte er mit dünner trauriger Stimme.
»Hmm.«
»All das Geld«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. »Aber
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