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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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wenn du wieder lachen kannst wie früher. Da hast du doch auch gelacht. Mit den alten Zähnen. Aber«, es war nicht zu überhören, dass es weniger seine Überzeugung, denn seine Absicht war, mir eine Freude zu machen, »aber die neuen sind bestimmt viel schöner!«
    Gäbe es, dachte ich, irgendetwas auf der Welt, womit man die Nacht auf der Lichtung aus mir herausfeilen könnte, die Kapsel herausschneiden wie einen Krebs, ich hieße den Schmerz willkommen wie den Erlöser.
     
    Freitagmorgen eilte mir Frau Dr. med. dent. Amanda Kritz händereibend entgegen, als hielte sie eine gelungene Überraschung bereit. Die steckte in einem Kästchen, ähnlich einer Schmuckschatulle. Darin, zwei Ohrringen gleich, meine beiden Vorderzähne in spe. Makellos weiß, dass ich mich würde anstrengen müssen, meine natürlichen Gottesgaben farblich auf dieses Niveau zu bringen. Und groß. Eigentlich riesig.
    »Schind schie nischt ein bisschen grosch?«, fispelte ich, ein Gefühl der Enttäuschung, nein, Verzweiflung, in mir niederringend.
    »Wie? Was?« Die Dentistin band mir das Lätzchen um - diesmal kein Cape, das konnte man sich sparen - und trat das Pedal, bis ich in einem für sie bequemen Zugriffswinkel lag.
    »Sie wollen doch nicht Ihr Leben lang so weiterzischeln, oder?«, fragte sie, unleugbar gekränkt. »Die sind genau richtig. Genau nach Abdruck. Sonst hätten wir alle vier Schneidezähne schleifen müssen. Dafür können wir uns heute die Spritze sparen. Ein Kinderspiel alles.«
    Wie aufs Stichwort begann der Klavierschüler wieder mit Der Kuckuck und der Esel , kam fehlerfrei durch und ging zu Alle Vögel sind schon da über. Wieder und wieder schwirrten »Amsel, Drossel, Fink und Star« aus allen Himmelsrichtungen in die Noten, während Amanda Kritz meine beiden Vorderzähne, einen nach dem anderen, eingipste »und die ganze Vogelschar«
sich in den Tasten tummelte. Bis med. dent. endlich mit einem Metallstäbchen spielerisch gegen jeden der beiden Neulinge trommelte - es klang hohl wie ein Legostein auf dem anderen - und mir befahl: »Schließen.«
    Das tat ich unter »Frühling will nun einmarschieren«, und erwartungsfroh hielt mir Amanda Kritz den Spiegel vor, »kommt mit Sang und Schalle«. Ich kriegte den Mund nicht zu. Zwar füllten die Plastiküberzüge in der Breite genau die Lücke, doch sie ragten in der Länge einiges über die Unterzähne hinaus. Hasenbiss. Kaninchenschnute. An den Kunstgebilden ließ sich nichts ändern. Noch einmal musste Natur geopfert werden. Bruchteile von Millimetern nur, wie Amanda Kritz versicherte, doch wieder wurden Bohrer, Feile, Schleifer in Gang gesetzt, und mein Körper erstarrte im Schmerz, längst bevor das rotierende Metallköpfchen die unteren Schneidezähne erreichte.
    Wirklich weh tat es nicht, doch mein Gedächtnis hatte noch nicht vergessen, was möglich sein könnte. Die Verkettung: Zahn, Schleifen, Schmerzen, Wahnsinn abrufbar im Gehirn, und es bedurfte nicht einmal des Geräuschs, das der Bohrer verursachte, geschweige denn der Berührung, schon der bloße Anblick des Gerätes genügte, mich Schmerzen spüren zu lassen, als würden sie mir zugefügt. Ähnlich mag es dem einmal Gefolterten beim Anblick der Instrumente, ja, bei deren bloßem Aussprechen ergehen.
    »Mund zu«, hieß es wieder und wieder, den reibungslosen Zubiss zu prüfen, und »Mund auf«, senkte sich wieder und wieder das Schleifköpfchen auf einen der vier Vorwitzlinge, um ihn in die Schranken des Kunstzahns zu weisen. Erst nachdem auch an der Hinterseite der Plastikmasse gefeilt worden war, klappten Ober- und Unterkiefer bissfest aufeinander, wurden die Neulinge zementiert, und Amanda Kritz hielt mir ein letztes Mal den Spiegel vor. Ich warf einen flüchtigen Blick hinein. Bei geschlossenem Mund. Und machte, dass ich wegkam.

    Im Holzstall holte ich den Spiegel hervor. Machte die Augen zu und lachte mich breitmäulig an. Machte sie auf. Wenn Schönheit im Auge des Betrachters entsteht, so waren diese Zähne schön. Ich wollte gerade Zähne haben. Zwei hatte ich nun. Zwei schöne gerade Schneidezähne.
    Wo vorher nichts war, war nun zu viel. Die Zunge musste sich, sollten gebissähnliche Zischlaute vermieden werden, den Eindringlingen anbequemen. Wie vor Jahren auf dem Dachboden, als ich meiner rheinischen Zunge das vorderzähnige L und die satten Zischlaute ausgetrieben hatte, trainierte ich nun den geschmeidigen Muskel erneut, befehligte, bremste, zügelte ihn, bevor er mit leisem Sausen an die

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