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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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pädagogisch kaum verbrämter Schadenfreude: »Hättet ihr … Hab ich nicht immer … das habt ihr jetzt davon!«
    Worauf ein noch elenderes Jaulen antwortete, bis die Ärztin die Tür aufriss und, mich keines Blickes würdigend, die heulende Truppe zur Behandlung vorzog. Ich versuchte, mich wieder in Gliederung und Herausbildung indogermanischer Konsonanten zu vertiefen, doch aus dem Behandlungsraum drangen Laute, die, das gemeine Sirren des Bohrers übertönend, aus fernen Urzeiten zu stammen schienen, längst bevor sich oberer und unterer Mundraum, Kehle, Zäpfchen, Zunge und Zungenbett in eine sinnvolle Ordnung, Vorbedingung sprachlicher Lautgebung, gefunden hatten. Im Behandlungsraum der Dentistin Kritz tat die Evolution einen gewaltigen Sprung zurück ins
Animalische. Kaum war einer der leidenden Knaben vom Bohrer zu kehligem Stöhnen gedämpft, machte sein Geschwister die Reduktion durch empathisches Geheul wieder wett.
    Das Wartezimmer füllte sich. Ich verstaute das Buch in meinem Matchbeutel und begab mich ans Studium meiner Mitmenschen. Noch war niemand da, den ich kannte, dem ich nicht jede beliebige Geschichte andichten konnte, was schwierig wird, sobald Fakten die Phantasie zügeln. Für den Mann, der mir schräg gegenübersaß, erfand ich zu seiner penibel gebügelten Sommerhose eine passende Frau, ätzende Stimme, ätzendes Wesen, alles haarscharf, Rasierklingensauberkeit. Ausdruckslos starrte der so Vermählte auf ein Blumenstillleben, Farbdruck hinter Glas auf der lindgrünen Wand vor ihm - lindgrün wie bei Maternus, wie in den Baracken von Elephteria, Elpida und Nestoria -, und ich dachte, ob denn, um die Gemüter zu beruhigen, in diesem Land alles nur noch hellgrün gestrichen würde.
    Nicht einmal zuckte der bügelscharfe Mittvierziger zusammen, wenn sich das Gebrüll im Angstzimmmer satanisch steigerte, während die Frau neben ihm sich die Ohren zupresste und - seltsamerweise, als für Minuten nur das Surren des Bohrers zu hören war - mit: »Das halt ich nicht aus!« aufsprang und der Szene entfloh.
    Zwei Frauen am Fenster redeten miteinander leise und gestenreich, und obwohl nichts zu verstehen war, begriff ich, worum es ging: links oben bei der einen, der anderen rechts unten, o, so gemein. Dann kam Frau Hings, normalerweise voller Geschichten und Lust auf Neues, heute nickte sie mir nur kurz und säuerlich zu, hielt sich die Backe und ließ sich mit geschlossenen Augen auf den letzten freien Stuhl fallen. Im Behandlungszimmer war es still geworden. Füßescharren. Die Tür ging auf. Verheult, hochrot die Jungen, die Mutter bleich: »Waat, bes mer daheim sin.«
    Ich wollte schon aufspringen, aber die Tür schloss sich noch einmal. Hatte nicht Sigismund mich trotz der schiefen Zähne geküsst? Ja. Trotz. Und dann eine mit makellosem Gebiss mir
vorgezogen. Und Godehard? Meine kleine Frau. Auch er: trotz. Warum sonst hätte er mir eine Zahnspange versprochen? Dennoch: Hatten meine Zähne mich jemals gehindert zu lachen, fröhlich zu sein? Bis zur Nacht auf der Lichtung? Aber: Nicht ein Photo gab es, auf dem ich offen lachte oder lächelte. Nicht eines. Genauso, wie es keines vom Vater gab. Er begegnete der Welt mit zusammengebissenen Zähnen. Ich wollte ihr die Zähne zeigen. Gerade Zähne. Ich hatte keine Not. Ich hatte Geld.
    Die Tür ging auf, und ehe ich mich’s versah, trat med. dent.s kräftiger Fuß den Hebel am Behandlungsstuhl, lag ich hingestreckt, eingekittelt, Lätzchen unterm Kinn auf der Kunstledermatte.
    »Aufmachen«, befahl die Frau nach flüchtiger Begrüßung. Einen Zahn nach dem anderen stocherte die Sonde ab, hin und wieder von einem Grunzen begleitet. »Schließen«, befahl die Stimme. Knacken, Krachen, der Stuhl ruckte Tritt für Tritt in die Senkrechte. Die Ärztin ragte vor mir auf: »Wären alle so vernünftig wie Sie, Fräulein Palm, und kämen, bevor es zu spät ist, wir wären bald arbeitslos. Haha. Alles in Ordnung.«
    Schon kehrte sie mir, diesem gänzlich uninteressanten Fall, den Rücken und wandte sich zur Tür, der Nächste, bitte, auf den Lippen.
    Ich aber blieb sitzen, was die Dentistin, gewohnt an schnelle Fluchten, verblüfft zur Umkehr bewegte.
    »Noch was?«, fragte sie stirnrunzelnd. Es war an der Zeit, die Person, der ich mein offenlippiges Lächeln in die Hand legen wollte, endlich genauer zu betrachten.
    Als Erstes ihr Busen, sicherlich nur unter einer Kittel-Sonderanfertigung zu bergen. Im Quelle-Katalog würde man dieses Ausmaß schwerlich

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