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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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wiss. Sonst nichts. Schmerz und Kintribiss. Nicht ich, der Schmerz stak im Kintribiss, da hauste er, da brauste im Kintribiss Kintribiss-Schmerz. Hilla Palm war weg, verschwunden. Hoch oben unter der Decke schwebte mein Ich und sah auf dieses hingestreckte, lätzchenbedeckte Geschöpf hinunter, wie Ich damals auf der Lichtung auf ein nacktes Mädchenbündel hinabgesehen hatte, auf das zusammengekrümmte Ding in den Glockenblumen im grünen Gras. Mein Ich hoch oben, weit weg von dem winselnden Wesen im Stuhl der Dentistin. Wann bringt der Schmerz uns um den Verstand? Uns um? Wenn Verstand und Lebenswille den Fluchtweg verpassen, Flucht aus dem Körper heraus, aus dem Ort des Schmerzes hinein in den Kintribiss. Please, please me, nearer My God to Thee, wie die Letzten auf der Titanic, Stoßgebet, Fluchgebet, Zauberspruch, egal . Starke Silben müssen es sein, starke Scheite hoch aufgerichtet, darauf zu verbrennen den Schmerz. Silben, das Ich vom Körper zu trennen, vom schmerzbesessenen Körper. Mag der Schmerz im Körper rasen, Ich ist in den Silben, und die tragen mich weg, schützen mich, kapseln mich fort. Solange sie stark genug sind. Sie verlieren ihre schützende Kraft, je länger der Schmerz den Körper besitzt, und dann, miteins, bei einer weiteren Drehung der Schraube, beim nächsten Folterschlag, beim kleinsten Abweichen des Bohrers, reißt der Schmerz das flüchtende Ich triumphal in den Körper zurück, lässt ihm keine Wahl als die zwischen Wahnsinn und Tod, vor dem ihn nur gnädige Bewusstlosigkeit rettet.

    Von weit her drang eine Stimme an mein Ohr, leichte Schläge auf meine brennenden Wangen, der wahnsinnsverkündende Schmerz hatte einer auf dem Oberkiefer begrenzten Taubheit Platz gemacht. Die Chemie hatte gesiegt.
    »Sehen Sie«, die Stimme der Wohltäterin nun deutlich vernehmbar, »mit zwei Spritzen geht es doch besser. Jetzt kommt der Nächste dran, dann sind wir fertig. Für heute.«
    Vom Abschleifen des zweiten Zahns spürte ich nicht mehr als einen dumpfen Druck im Kiefer, eine Belästigung, mehr nicht. Der Kintribiss verklang, ich bewegte die eisigen Zehen, die eisigen Finger, ja, ich war noch da und ganz. Eine kalte, nachgiebige Masse auf einer Metallplatte wurde gegen meinen Oberkiefer gedrückt, gehalten, mit einem Ruck entfernt.
    Irgendwo im Haus begann einer Klavier zu üben, oder hatte er schon die ganze Zeit gespielt? Der Kuckuck und der Esel , den -sel immer einen halben Ton zu tief, ein Kleinkind brüllte, ein zweites, »Ruhe, verdammt noch mal«, eine Männerstimme, ein Moped sprang an, Geräusche, die mir versicherten, wieder in der Welt der kleinen Übel gelandet zu sein. Mein Körper im Krampf verhärtet, das Gehirn in Alarmbereitschaft vor dem nächsten Zugriff. Der ausblieb. Nur noch einmal schrillte Panik hoch, als ich mich aus dem Stuhl rappelte, es wagte, die Zunge an den Ort des Geschehens zu führen und an zwei spitz zugefeilte raue Stümpfe stieß.
    Mit wohlwollender Anerkennung erließ mir Dr. med. dent. den Betrag für die zweite Spritze, als Belohnung für die »Tapferkeit vor dem Feind, der Feile, haha«.
    Mein »Danke« geriet zu einem feinen Zischen, von Speichelsprühregen begleitet, ähnlich dem, den vor Jahren meine zahnspangenbewehrten Antworten auf die Fragen des Prokuristen auf dr Papp erzeugt hatten.
    »Auf Wiederschehen. Wie lange dschen?« Ich deutete auf einen Mund, den aufzumachen ich weniger gewillt war als jemals zuvor.

    »Ich werde sehen, dass wir das so schnell wie möglich hinkriegen. Ich ruf Sie an.«
    »Kein Tschelefon.«
    »Aha. Dann kommen Sie Freitag vorbei. Dann sind sie mit Sicherheit da. Die Neuen. Um acht.«
    Agnes Pütz saß wieder an ihrem Empfangstisch. Sie gab sich kaum Mühe, Mitleid zu heucheln. Heute Abend würde es ganz Dondorf wissen: Dat Kenk vum Rüpplis Maria kritt zwei falsche Zäng.
     
    Nach Strauberg fuhr ich; dorthin, wo mich niemand kannte. Zeigte in der Bäckerei auf zwei Milchbrötchen, zahlte und nickte auf Wiedersehen. Radelte den Damm entlang, zurück, hinunter zur Großvaterweide. Argwöhnisch, als könnten sie zuschnappen, tastete ich mit der Zunge nach den Restbeständen. Drückte ich die Zunge vor die unteren Zähne, die unbehelligt in krummer Gesundheit aus der knöchernen Grundlage ragten, oder hielt ich sie in gebührendem Abstand im Oberkiefer fest, konnte ich mir einbilden, es sei nichts geschehen. Doch die Betäubung ließ nach, und öffnete ich den Mund auch nur einen spaltbreit, traf der frische Wind vom

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