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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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finden. Diese Brust suggerierte vieles auf einmal: Mütterlichkeit gewiss, Geborgenheit, Schutz. Und auch ein Anflug von Macht lag in ihrer Überfülle; beim Anblick dieser Titanen bekamen die »Waffen einer Frau« einen neuen Sinn, verloren ihre herablassende Putzigkeit und gewannen durchaus etwas von dem, was Waffen eigen ist: Drohung,
Gefährlichkeit, Abwehr, Einschüchterung. Sich mit dieser Frau anzulegen, war nicht ratsam. Aber das hatte ich ja auch nicht vor. Anvertrauen wollte ich mich dieser Person mit dem breiten großflächigen Gesicht, den roten Wangen, blauen Augen unterm burschikosen Haarschnitt. Die Nase spitz, der Mund schmal, fast unsichtbar.
    »Gibt’s noch was?«, wiederholte sie.
    Ich fletschte meine Vorderzähne zu einem äffischen Grinsen. »Ich hab nicht ewig Zeit.« Die Ärztin ließ eine weiße Korksandale wippen.
    »Ja, sehen Sie denn nicht? Meine Zähne!«
    »Seh ich. Ja. Wo ist das Problem? Gesunde Zähne. Alle.«
    »Aber«, stotterte ich, »krumm!« Es war heraus.
    »Seh ich«, erwiderte die Ärztin ungerührt und trat etwas näher. »Ist aber eine Sache für den Kieferorthopäden. Hätte eine Zahnspange gebraucht. Waren wohl als Kind zu faul eine zu tragen. Zu bequem. Und jetzt ist es zu spät.«
    Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, die Hand des Vaters sich um meine schloss, meine Hand mit der Spange, das Knirschen.
    »Kann man da keine Krone machen?«, stieß ich hervor.
    »Kann man. Kann man alles. Die beiden vorderen vielleicht? Zahlt aber keine Kasse.«
    »Ich hab gespart.« Die Lüge verschaffte mir eine trotzige Befriedigung.
    »Na dann«, die Ärztin zuckte die Achseln. »Kostet aber eine Kleinigkeit. Tja, ›des Menschen Wille …‹« Seufzen, Kopfschütteln. »Überlegen Sie sich’s noch mal. Die Zähne einzeln betrachtet sind schön, jeder für sich. Und gesund. Aber wenn Sie dabei bleiben … unter dreihundert Mark kommen Sie nicht davon.«
    Damit hatte ich nicht gerechnet. Machte den Mund zu. Fuhr mit der Zunge die Zahnkanten entlang. Schluckte. In einer anderen Praxis hätte ich es mir vielleicht noch einmal überlegt. Vor dieser selbstgefälligen Person mochte ich mich nicht
geschlagen geben. Und dann die Magie des Namens: Amanda, die Liebenswürdige. Das musste Spuren hinterlassen, selbst im Gemüt einer Dentistin.
    »Hab ich«, quetschte ich hervor.
    »Gut«, die Frau wandte sich ab. »Machen Sie draußen bei Fräulein Agnes einen Termin.«
    Im Gefühl, das Schwerste hinter mich gebracht zu haben, krabbelte ich aus dem Gestell. Termin: zwei Tage später, morgens um acht.
     
    Niemand, nicht einmal Bertram ahnte, weshalb ich an diesem Donnerstagmorgen in aller Frühe aufs Fahrrad stieg.
    Med. dent. Amanda Kritz schloss die Praxis auf, als ich eben mein Rad in den Ständer stellte. Sie roch nach Deo und frischem Kaffee. Kurz darauf trat Agnes Pütz ein, die Sprechstundenhilfe, die sich mit einem weißen Kittel Amt und Befähigung einer med.-dent.-Assistentin überstreifte. Auch Dentistin Kritz hatte es eilig, Dienstkleidung anzulegen, wusch sich die Hände und fragte, mir das lindgrüne Cape um den Hals schnürend: »Mit oder ohne?«
    Mit oder ohne? Was hatte das zu bedeuten?
    »Mit Betäubung oder ohne«, nahm Fräulein Pütz ihre Assistententätigkeit auf, Triumph lauerte in ihrer sonst so unterwürfigen Stimme.
    »Pro Spritze zehn Mark«, ergänzte die Ärztin gleichmütig. »Zwei Spritzen brauchen wir mindestens. Geht aber auch mit einer. Einfach Zähne zusammenbeißen. Haha.«
    Zwanzig, womöglich dreißig Mark? Da konnte ich sparen. Ich schüttelte den Kopf: »Bitte nur eine.« Frau Kritz zuckte die Achseln. Zum ersten Mal überkam mich die Ahnung einer Genugtuung, etwas so Unvorstellbares, Unaussprechliches wie die Nacht auf der Lichtung hinter mich gebracht zu haben. Überstanden zu haben. Überlebt. Was konnten mir Bohrer und Feilen, Sonden und Zangen in den Händen einer Dentistin schon anhaben?

    Der Stuhl war mir bekannt, der Umhang vertraut, med. dent. hatte ein Gerät aufgesetzt, ähnlich einer Taucher- oder Schweißerbrille. Die Spritze stach zu. Ich musste kurz warten.
    Ich hatte keine Schmerzen. Der Schmerz hatte mich. Der Schmerz und ich nicht mehr in Subjekt und Objekt geteilt. Ich war besessen, durchdrungen vom Schmerz. Ich war der Schmerz. Was von mir übrigblieb, sang. Sang im Kopf: Dri Chinisin mit dim Kintribiss, Kintribiss, Kintribiss«, langgezogen wie das Kreischen der Turbine, Kintribiss, sissen if di Strisse ind irzihltin sich

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