Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
um, sei man sich ja wohl einig: »Wozu brauchen wir Atomwaffen?«
    »Atomwaffen vielleicht nicht«, widersprach ein Mädchen mit ruhiger aufmerksamer Stimme. »Aber eine Wiederbewaffnung? Ist die so verkehrt?« Man müsse sich doch schließlich verteidigen.
    Die Diskussion kam in Fahrt.
    »Siehst du«, sagte Godehard aufgebracht zu Markus, »was hab ich gesagt. Schon mitten drin in der Politik!«
    »Keine Sorge«, lachte der, »gegen diese Waffe versagt jede Auf- und Abrüstung.« Der Vetter klopfte die LP aus der Hülle.
    Ich stellte mich ans Fenster. Es war dunkel geworden. Draußen erhellten blaue, grüne und gelbe Laternen auf kniehohen Stäben den Weg zu Godehards Haus. Am liebsten hätte ich ihn bei der Hand genommen und wäre mit ihm durch das Spalier der bunten Kugeln zu einem unserer langen Spaziergänge aufgebrochen, weg von diesem Getümmel, den müden Chansons, den Gesprächen, Brothappen und Bowle. Doch Godehard zog mich mit sich, die Platte knisterte, zwei, drei harte Schläge, »one, two, three, four«, zählte eine Jungenstimme. »Mach doch mal einer das Licht aus«, brüllte jemand über die Musik hinweg, der in Kellnerkleidung schoss hinter den Tischen hervor, fummelte an einem Schalter, der Kronleuchter verglimmte bis auf ein lind-romantisches Sommernachtslicht, schimmerte milde wie
ein wolkenverhangener Vollmond. Schlagzeug, E-Gitarren, eine Stimme bellte: »Well, she was just seventeen, you know what I mean, and the way she looked was way beyond compare. So, how could I dance with another, ooh, when I saw her standing there?«, sang die Stimme, und Godehard suchte meinen Blick, als sähe er mich wirklich wieder dort stehen, dort an der Kiste, und ich war ja auch siebzehn, die Stimme versprach: »Now I’ll never dance with another«, und Godehard hielt mich vor aller Augen in den Armen, »Komm, tanzen wir«, sagte ich, andere folgten uns, einfallsreichere Tänzer als Godehard, die ihre Partnerinnen ständig von sich wegwarfen und wieder zurückrissen, um die eigene Achse schnellten, mit den Fingern schnippten, die meisten mit einem todernsten, beinah feindseligen Ausdruck, der sich, je länger die vier Maikäfer ihren Schreigesang stöhnend auf Gitarre und Schlagzeug droschen, mehr und mehr lockerte und einer Selbstvergessenheit Platz machte, die ich von den Gesichtern der Kirchengemeinde kannte, wenn der Chor, verstärkt mit Pauken und Trompeten des Schützenvereins, das Halleluja jubilierte. »Misery«, jammerte einer der vier, »you’ve been treating me bad«, nie hatte ich entrückter vom Elend des Liebeskummers singen hören. Schön, nein, schön war es gewiss nicht, was die vier ihren Stimmen und Instrumenten abrangen; klang eher, als würden sie gleichzeitig Kaugummi kauen, gurgeln und heiße Kartoffeln runterwürgen, dazwischen hohes Geheul, so wie die Tante über die Straße juhuute, wenn sie einen sah vom alten Schlag.
    Nicht zu vergleichen mit dem Wohllaut der Chansons, ihrer poetischen Sprache, war dieses läppische: »Love, love me do, you know I love you, I’ll always be true, so please, please love me do.« Aber es wirkte. Wirkte, als hätte man uns allen etwas in die Bowle, den Whisky, den Cognac, die Cola oder Limo gekippt. Es packte alle. Die um das Mädchen in den schwarzen Hosen so gut wie die mit dem Friedensknopf, die Jazzanhänger sowieso. Bis »Love, love me do« auch die Mädchen am Buffet, die mit den Tabletts und am Ende auch den Mann in Kellnerkleidung
fortriss. »We held each other tight«, gab die Stimme vor, und Godehard tat, wie ihm befohlen, drückte mich an sich, meine kleine Frau. »Please, please me«, bettelte die Stimme in immer höheren Tönen, die mir ins Blut gingen, wo sie sich mit meinen Bowleschlückchen vermischten, schon kam mir Godehards Unterleib nicht mehr bedrohlich vor, war nur noch lästig, dann nicht einmal mehr das. Ganz nah dran war ich, alles, was ich jemals gelesen hatte vom Tanzen, Trinken, Küssen und Begehren auf einen verfügbaren Körper zu übertragen: höchste Zeit für einen Gang aufs Klo.
    Immer noch hatte ich nicht herausgekriegt, wie man einen solchen Gang gediegen ankündigt. Selbst Frau Dr. Oheim schien davon auszugehen, dass eine Dame sich derlei verkniff. Ich wand mich aus Godehards Arm. »Bin gleich wieder da.«
    »Direkt neben der Garderobe«, rief er mir nach. »Ich warte auf dich, warte immer auf dich.«
    An der Tür vertrat mir ein Mädchen, von dem ich mich schon den ganzen Abend beobachtet fühlte, den Weg.
    »So

Weitere Kostenlose Bücher