Aufbruch - Roman
allein?«, fragte sie, sich wie in huldvoller Verneigung zu mir herabbeugend. Sie war sehr schlank, einen guten Kopf größer als ich, die dunklen, fast schwarzen Haare aufgesteckt, was sie noch größer machte. Um den Hals trug sie eine Kette aus bunten Steinen. »Godehard lässt Sie ja keinen Augenblick aus den Augen. Sie gehen noch zur Schule?« Das große Mädchen roch schwach nach Maiglöckchen und sprach mit einer einnehmend sanften Stimme, der man sich gern anvertraute. »Gehen wir ein paar Schritte?«
»Ja, nein«, stotterte ich. »Ja, ich meine, ich gehe noch zur Schule. Nein, ich geh lieber wieder rein. Godehard wartet.«
»Der kann warten. Der wird warten. Glauben Sie mir, es schadet gar nichts, wenn man Männer warten lässt. Natürlich nicht zu lange.« Lächelte sie?
»Sehen Sie mich ruhig an. Ich bin ein paar Jahre älter als Sie. Freuen Sie sich denn auch schon auf Rom?«
»Auf Rom? Wieso Rom?«
»Sie fahren doch Pfingsten nach Rom.« Keine Frage war das, es war eine Feststellung.
»Nach Rom? Ich? Das muss ein Irrtum sein.« Das Mädchen war wirklich älter als ich, eine junge Frau, etwa Mitte zwanzig. Sie schaute geradeaus in die bunterleuchtete Dunkelheit und wandte mir ihr Profil zu, ein hageres, verletzliches Vogelprofil mit einer schmalen Nase, dünnen Lippen, großen Augen unter langen Lidern. Was wollte diese Frau von mir? Wer war sie? Sicher hatte ich auch ihre Hand gedrückt, Name und Gesicht aber waren mit denen der anderen verschwommen.
»Nun, das weiß Godehard aber besser.« Hörte ich in der wohllautenden Stimme einen spöttischen Unterton?
»Wieso Godehard?« Ich biss mir auf die Lippe. Ich wollte weg und doch auch wissen, was als Nächstes kam.
»Nun, Godehard redet seit Ostern nur noch davon, dass er Pfingsten mit Ihnen nach Rom fährt.«
»Ja, so«, sagte ich. »Ich wollte eigentlich nur mal austreten.« Austreten! Wie ein I-Dötzchen. Durchgefallen. Ich machte die Klotür hinter mir zu.
Als ich herauskam, war sie fort. Godehard wartete auf mich, bei ihm ein Pärchen: Burkhard, der Bruder, mit seiner Verlobten. Beide schauten mich, wie mir schien, entgeistert an, sekundenlang nur, machten dann aber diesen Eindruck, wenn er denn stimmte, durch doppelte Herzlichkeit wett.
»Godehard ist sehr glücklich mit Ihnen.« Burkhards Händedruck war fest und zuverlässig. Etwas größer als Godehard, hatte er die gleichen hellen Augen, das helle Haar, sogar die Kerbe im Kinn war der des Bruders ähnlich. »Aber was ist denn das für eine Musik da drinnen? Hörst du, Clea?« Burkhard legte seiner Verlobten die Hand auf die Schulter. Mein, sagte die Hand mit allen fünf Fingern. Das Mädchen, klein wie ich, rund und munter - blaue Ohrringe baumelten aus braunen Locken, eine grüne Plastikblume steckte am roten Kleid -, sah mich ebenso erstaunt, durchdringend und freundlich an wie der Bruder. Was hatte Godehard ihnen nur von mir erzählt?
Doch noch ehe jemand die Frage nach der Musik beantworten konnte, drängte uns der mit dem schwarzen Rollkragenpullover zur Seite und stürzte, »Hört ihr’s denn nicht?«, an uns vorbei nach draußen. Wir ihm nach. »Love, love me do«, klang es zum wievielten Mal durch die weitgeöffneten Fenster. »Denise!«, schrie der Mann. »Mach die Tür auf!«, schrie er mit zum Himmel, genauer zum Dachgeschossfenster, gereckten Armen. Eines der schwarzen Röhrenhosenbeine hing schon über der Fensterbrüstung, der Oberkörper des Mädchens ins Innere des Dachstuhls gedreht. »Isch werde misch stürzen von oben nach unten!«, gellte sie mit ihrem drolligen Akzent, es klang wie die Ankündigung einer Zirkusnummer.
»Um Himmels willen!« Godehard knirschte mit den Zähnen. »Marcel, was ist mit Denise los?«
»Eifersüchtig, wieder mal. Hab zu lange mit Manuela getanzt und dazu auch noch gesungen, dieses blöde Lied geht einem ja sofort ins Ohr: Love, love you, too. Denise!«, unterbrach er sich schreiend. »Mach die Tür auf! Ich hol dich!« Dann, zu uns gewandt: »Wenn sie getrunken hat, ist sie unberechenbar.«
»Keine Sorge.« Burkhard legte dem Aufgeregten die Hand auf die Schulter. Ruhe, keine Sorge, sagte die Hand. »Ich hole jetzt eine Leiter, und Sie bleiben hier stehen und reden ihr gut zu. Komm mit, Godehard.«
Kaum waren die beiden weg, zog das Mädchen sein Bein aus dem Fenster, doch nur, um alsbald das andere herauszuschwingen und, »Isch werde misch stürzen von oben nach unten«, das zweite nachzuziehen.
»Denise«, heulte
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