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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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in gelben Großbuchstaben. Rechts unten, kleiner, der
Titel: Please, Please Me . Darunter noch kleiner, hellblau: With Love Me Do and 12 other songs .
    »Beatles, nie gehört«, schallte es aus der Gruppe der Jazzanhänger. Dies sei das erste Album der Gruppe, erklärte der Vetter, gerade herausgekommen, er habe sich gleich eins gesichert, wir sollten doch erst mal hören. Jede Wette, die seien bald die Nummer eins. Unterstützt wurde er von einem schlaksigen Jungen, der in Jeans und offenem Hemdkragen James Dean nachstrebte, und einem Mädchen, das in seiner schneidergrau kostümierten Eckigkeit an Astrid erinnerte und mit durchdringender Stimme behauptete, sogar Radio BBC habe dieser Gruppe gerade eine ganze Stunde gewidmet.
    »Sehen süß aus«, befand ein Mädchen. »Aber die Haare?«, meinte ein zweites unschlüssig. »Wär nichts für meinen Vater. So einen dürfte ich nicht mit nach Hause bringen.«
    »Nach Hause vielleicht nicht«, antwortete die Erste vielsagend, worauf sich die beiden kichernd ihre Gläser nachfüllen ließen.
    Die dritte, stärkste Gruppe wurde von einem Mädchen in Hosen angeführt. Langes aschblondes Haar, dichter Pony bis in die Augen, enger schwarzer Pulli, schwarze enge Hosen, flache schwarze Schuhe. Ich musste lachen, dachte an meine Färbekünste, als ich aus Protest gegen Gott und die Welt, das Leben im allgemeinen und die Pappenfabrik im besonderen meine sämtlichen Kleider existentialistisch-schwarz gefärbt hatte, worauf die Tante mich voller Entsetzen eine »Ecksteinspezialistin« genannt hatte. So ähnlich glaubte sie es in einem Artikel über die zügellose Jugend in Frankreich gelesen zu haben.
    Auch das Mädchen hielt eine LP in der Hand und wurde unterstützt von einem jungen Mann, Anzugträger mit Rollkragenpulli, ebenfalls schwarz. Jetzt seien sie an der Reihe, sagte er in einem müde-vornehmen Ton, er habe nichts gegen diese schwarze Musik, viel Seele, aus der Hefe komme diese Musik, wisse er alles, aber die Wurzeln unserer Kultur lägen doch anderswo, lägen doch hier. Er nahm der Schwarzgekleideten
die Platte aus der Hand und schwenkte sie überm Kopf, rief »La belle France« und das hier sei nun die neueste Platte von Juliette Gréco, Texte von Prévert und Brassens, sogar von Sartre, Jean-Paul Sartre, wiederholte er, als dulde allein dieser Name keine Ablehnung. Zwei Gedichte von ihm habe die Gréco sich selbst aussuchen dürfen. Und, spielte er seinen letzten Trumpf aus, ihre Mutter sei im Widerstand gegen die Nazis gewesen; die kleine Juliette habe mit ihr im KZ Ravensbrück gesessen.
    Betretenes Schweigen.
    »Der Abend ist doch noch lang«, beschwichtigte Godehard, souverän in seiner Rolle als Gastgeber. »Also Amerika hatten wir ja schon. Jetzt erst einmal ›Vive la France‹ und dann kommen die, wie heißen sie noch? Die Beatles, die Maikäfer, dran.«
    Gesittet standen wir um die kleinen, hohen Tische herum oder saßen auf schmalen Stühlen gegenüber vom Buffet, machten wissende Mienen zu Chansons, von denen ich kaum ein Wort verstand. Drei Jahre Französisch in der Realschule waren fast spurlos an mir vorübergegangen. Juliette Gréco folgten Charles Trenet und Gilbert Bécaud, Charles Aznavour und Yves Montand, die Stimmung wurde zunehmend gedämpfter, die Gespräche verstummten beinah ganz, betreten stierten wir in unsere Gläser, o wie luden diese Lieder doch die ganze Schwere des Lebens auf unsere jungen Schultern. Da half nur noch Bowle. Leise schlich man über die knarrenden Dielen zum Nachschub, immer öfter kamen die Jungen mit stärkerer Kost zurück, Whisky oder Cognac, man lehnte aneinander, umarmte sich, schutzsuchend vor diesem Ansturm französischer Melancholie, erst Edith Piaf mit ihrer krähenden Lebenslust riss uns zurück ins pralle Partyleben.

Auch ich hatte Godehard immer wieder mein leeres Glas präsentiert; er liebte diese kleinen Aufmerksamkeiten für mich umso mehr, hier vor aller Augen. Wie sollte er wissen, dass ich mir meinen Stuhl genau ausgesucht hatte, direkt neben der Kakteenetagere, was mir erlaubte, meine Bowle immer wieder mit einem Greisenhaupt oder einem Zwergsäulenkaktus zu teilen?

    Zwei weitere Serviermädchen erschienen, balancierten Platten mit Broten, so klein, dass Astrids Vater davon sieben auf einen Streich hätte verputzen können. Ich hatte Hunger, hätte gern zwei Happen auf einmal von der Platte geklaubt, doch Godehard hielt meinen Arm unauffällig, spielerisch, aber nachdrücklich zurück. Hätte er,

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