Aufbruch - Roman
Marcel.
»Diable«, heulte Denise.
Drinnen schien man von all dem nichts zu bemerken. Man spielte jetzt Elvis Presley, You’re the Devil in Disguise , und man kreischte wie zuvor bei den Beatles, womöglich noch lauter, erprobte dieses gerade entdeckte lustvolle Kreischen in immer neuen Variationen und Lautstärken.
Die Leiter kam. Denise zog die Beine ein und knallte das Fenster zu. Marcel rannte zur Haustür. Wo ihm Denise schon entgegenkam. Auf unsicheren Beinen und im Arm eines ebenfalls schwarzgekleideten jungen Mannes, dessen weißgestärkter Hemdkragen zuversichtlich aus der dunklen Wolle schimmerte. Marcel sprang auf sie zu, und Denise ließ sich von einem Arm in den anderen fallen. Zufrieden wischte sich ihr Retter die Hände an den Hosenbeinen ab.
»Mensch, Lukas, danke!« Godehard stupste ihn in die Rippen. »Da sieht man doch wieder mal, wofür die Kirche gut ist. Hilla«, wandte er sich an mich, »Lukas van Keuken, der Diakon.«
Lukas van Keuken hatte die gleichen offenen Augen wie seine Vettern. Hell und bodenlos, so hell, dass ich mich kaum darin widerspiegelte. Auch er sah mich mit dieser sekundenlangen Verblüffung an und schüttelte mir dann betont herzlich die Hand.
»Auf den Schreck müssen wir einen trinken«, Burkhard horchte auf, winkte ins Haus. »Ah, das sind ja dann wohl eure Beatles.«
»Kommen Sie«, Lukas nahm mich beim Arm, »Godehard hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«
»Dürfen denn Diakone tanzen?«, fragte ich dümmlich, doch schon wirbelte mich Lukas rechts herum, links herum, rundherum am ausgestreckten Arm, ließ mich los, fing mich wieder ein, Godehard hüpfte neben mir vor einem Mädchen hin und her, plötzlich hielt mich ein anderer an der Hand, ein verschwitzter Junge hatte mich mitten in der Drehung von Lukas weggeschnappt, zog mich an sich heran, rollte flehend die Augen und seufzte mit schwerer Zunge und einem starken holländischen Akzent: »Tanz locker mit mir!«, und ließ die Glieder schlackern, »twist and shout«, brüllten die Beatles, »twist and shout«, brüllte Markus, »die letzte Nummer«, schrie er und »twist and shout«, alle schrien, und Godehard brachte mich aus den zunehmend unsicher greifenden Händen des Holländers in Sicherheit, »twist a little closer«, riss mich an sich, »and let me know that
you’re mine«, Godehard schnüffelte in meinen Haaren, kitzelte mich an den Rippen, das hatte er noch nie getan, ich riss mich los, verrenkte mich an seiner Hand, wie ich hoffte, gekonnt und anmutig nach allen Seiten, »twist and shout«, wo war Lukas? Wo war der Diakon? Höchste Zeit für den Diakon, musste machen, dass ich hier wegkam, mein »Kapital« sonst futsch, verspielt, in einer Nacht.
Doch nicht Godehard würde es sein, mit dem ich »mein Kapital« durchbringen würde, die vier Pilzköpfe wären es, ihre aufsässig rauen Jungenstimmen würden mich ausnehmen, ihnen würde ich erliegen. So, wie vor Jahren im Treibhaus mit Peter Bender in der schwülen Blumenluft nicht viel gefehlt hatte, und ich hätte ein Treibhaus geküsst und geglaubt, es sei Peter. »Et es en Sekond«, war die Warnung der Mutter, wenn es »zum Äußersten« kam, wenn die Kääls »et« han, sind se weg, wussten die Frauen bei Maternus. AAhhh (tief), ahhhh (höher), ahhhh (höher), aaahhhhh (hoch), schrien die von der Platte, schrien Godehard und ich, jedesmal eine Oktave höher und schüttelten uns in verzückter Lust. Ich spähte nach Lukas. Schrie der auch?
»Mein Zimmer ist oben«, blies mir Godehard ins Ohr und fuhr mit der Zunge in meine Ohrmuschel. Ooohhh, ohhhh, ohhhhh! Quiekend torkelte ein Mann, die Champagnerflasche in der Hand, unter die Tanzenden, letzte harte Gitarrenschläge, die Platte war zu Ende. »Twist and shout«, grölte der mit der Flasche und setzte den Champagner an den Hals wie die Männer auf der Dondorfer Kirmes ihr Bier.
»Einen Augenblick.« Godehard nötigte mich auf ein Stühlchen, bemächtigte sich des Betrunkenen und schleppte ihn weg. »Jetzt fängt der Abend doch erst an«, maulte ein Mädchen, das schlaff neben mir hing, und streckte die Hand nach dem Jungen aus, der ihr Glas gefüllt zurückbrachte. »Komm, leg noch mal auf. Noch mal dasselbe.«
Ich zog mein Bolero über, griff meine Tasche. Meine Godehard-Uhr zeigte kurz nach zehn. Ich sprang hoch. Lukas war auf dem Weg zur Tür: »Nach Hause?«
»Ja, Frühmesse. Muss noch einiges vorbereiten.«
»Ich komm mit.« Bevor Godehard wiederkam, wollte ich weg sein. Ich
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