Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
falsch.
    »Also, wat jibet? Isch muss noch mal weg. In dr Jarten.«

    Der Garten gehörte Krötz, dem Prinzipal, wie die Fabrik, wo der Vater arbeitete, Maschinen bediente, die aus riesigen Drahtballen Ketten formten. Nach Feierabend sorgte er - »Herr Palm, Ihr grüner Daumen ist unbezahlbar« - für Blühen und Gedeihen in dem parkähnlichen Gelände.
    »Also, das Jeld, isch brauch das für einen Sprachkurs. Englisch. In England.« Ich holte tief Luft. Hielt die Augen gesenkt, studierte meine kreuzweis geschnürten braunen Halbschuhe.
    Wieder stieg aus der Kehle des Vaters dieses heiser-erstickte Bellen: »Ne Sprachkurs? Aha. Zum Englischliere no England. Nä! Liere kan mer överall op dr Welt. Och doheim!« Der Vater packte das Fahrrad mit beiden Händen und schob es vorwärts, an mir vorbei, hart streifte mich das Schutzblech des Hinterrads.
    »Ävver du krieschst et doch widder!«, schrie ich ihm nach. »Et is doch nur für drei Wochen! Isch jeh doch widder zum Maternus!«
    Der Vater blieb noch einmal stehen, kehrte mir weiter den Rücken zu und knurrte mit schräg über die Schulter geneigtem Kopf: »Nä, han isch gesacht. Schluss jitz! Isch han keen Zick. Isch muss en dr Jarten. Der Prinzipal waat ald 29 .«
    Der Vater rechts, ich links, verschwanden wir in Schuppen und Stall.
     
    »Und?«, fragte der Bruder am Abend.
    »Nix«, sagte ich. »Er sagt: Lernen kann ich auch zu Hause.«
    »Aber du musst doch auch mal raus. Du bist doch noch nie in die Ferien gefahren. Nie weiter gekommen als bis nach Würzburg auf Klassenfahrt. Die Riemenschneider-Tour.«
    Bertram konnte gut lachen. Seine Klassenfahrten hatten ihn schon nach Paris und Rom gebracht; die Patentante bezahlte. In diesen Sommerferien machte er eine Radtour durch Schottland.
Mit dem Sohn der Tante und einem Schulfreund, Taschengeld inklusive.
    »Und wenn du es noch mal probierst? Er war heute vielleicht nur zu kaputt. Musste ja auch noch mal weg. Sonntag. Probier es doch am Sonntag noch mal. Amo …«
    »Amas, amat. Mach ich.« Ruhe finden konnte ich nicht. »Du Bertram, hast du den schon mal lachen sehen?«
    »Hä?«, machte Bertram.
    »Lachen«, wiederholte ich, »so wie andere Männer. Onkel Schäng oder Onkel Hermann, wenn die sich von früher erzählen und die Oma ihren Aufgesetzten rausholt.«
    »Lachen? Dä Papa?« Pause. Dann, mit Bestimmtheit: »Nein. Nie! Hab ich nie drüber nachgedacht. Jetzt, wo du’s sagst. Nie. Nicht mal auf Photos. Und die Mama auch nicht. Die grinst nur, so als wär sie beim Zahnarzt. Und die Oma? Auch nicht.«
    Nebenan ging die Tür, leichte Schritte, die Mutter kam ins Elternschlafzimmer.
    »Schlaf gut«, flüsterte ich.
    Bertram gähnte, Bettzeug raschelte. Eine Weile starrte ich in die Dunkelheit, horchte auf die Atemzüge des Bruders und grübelte, die säuerliche Stimme der Mutter - »Wat jibet denn do ze lache?« - im Ohr, darüber, wie sehr sie sich von ihrer Schwester unterschied, Tante Berta, die lachend und krachend durchs Leben polterte.
    Nachts träumte ich von Pappa. Pappa, träumte ich. Pappa, Pappa, bitte Pappa bitte bitte bigpig bittepig pigpig Bigpappa Pappapig, Pigpappa, Bigpappapig, Pappa und pig, bitte und big verquirlten sich zu immer neuen Wörterschlaufen, wie winzige, stichlige Käfer krabbelten sie auf und über mir herum, wollten in meinen Mund hinein, wollten, dass ich es herausschrie, das Wort, das mir nicht über die Lippen gekommen war.
    »Hilla! Wach auf!« Bertram hielt mich an beiden Armen.
    Ums Herz herum tat mir alles weh. Jede Rippe. Ich schnappte nach Luft.

    »›Papa‹, hast du geschrien«, sagte Bertram, »ganz laut. ›Papa!‹ Soll ich Licht anmachen?«
    »Schlaf weiter. Ich hab nur geträumt. Schlecht geträumt.«
     
    Doch Bertram hatte recht. Warum es nicht noch einmal versuchen?
    In der Georgskirche blühten die Blumen, wucherte der Sommer über die Stufen hinauf zum Altar und um den Altar herum, üppige Sträuße aus dem Pfarrgarten und aus Gärtnerei Benders Rabatten. Lilien und Weihrauch mischten sich in das Hosianna der Orgel, Duft und Klang verbanden sich mit den Stimmen der Gemeinde, den Messdienerschellen, dem Flackern der Kerzen, nichts, was nicht eingestimmt hätte in den großen Gesang zur Ehre des Herrn. Sursum corda. Mein Herz erhob sich auch. Ich kniete in einer der letzten Bänke; war mit den Jahren immer weiter nach hinten gerückt, immer weiter weg von der ersten Reihe, in die sich Hildegard, das Beichtkind, Kommunionkind gedrängt hatte. Immer weiter nach

Weitere Kostenlose Bücher