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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Hatte ich vor Jahren noch Geld ausschließlich in Reclam-Währung umgerechnet, teilte ich jetzt in meinem Kopf noch nicht verdienten Monatslohn bereits in einen Wintermantel, ein sogenanntes kleines Schwarzes und eine dazu passende Handtasche ein. Im Herbst würde ich mit dem Theaterbus des Ambach-Gymnasiums, dem sich das Humboldt-Gymnasium anschließen durfte, nach Köln ins Schauspielhaus und in die Oper fahren.
     
    An vier Fabriken der Umgebung schickte ich meine Bewerbungen; schließlich durfte ich bei einer Großenfelder Tubenfabrik vorsprechen und wurde genommen. Schon am ersten Tag, Monika saß jetzt im Flugzeug nach London, sehnte ich mich ans Fließband zurück. Bei Maternus konnte man immerhin sitzen; hier musste man stehen, acht Stunden lang, mittags eine halbe Stunde Pause, morgens und nachmittags je zehn Minuten. Christbaumartige Ständer glitten auf Schienen durch die Halle, wir zogen die Tubenrohlinge, die dem Baum aufgesteckt waren wie Kerzen, ab und schichteten sie in einen Korb. Die Zeitspanne auch hier durch einen Refa-Mann so knapp berechnet, dass keine von uns nachlassen durfte, wollte sie nicht den Kolleginnen mehr Arbeit aufbürden. Nahmen die Tuben in den »Bäumen« überhand, griffen sogenannte Springer ein, Frauen in der Hierarchie knapp unter einer Vorarbeiterin, aber auf dem Weg dorthin.
    In der ersten Woche schaffte ich mein Pensum ganz leidlich, mit einigen der Frauen konnte ich auch schon ein paar Worte wechseln, eine, Giusi aus der Gegend von Palermo, hatte mir sogar ein Photo ihrer Eltern gezeigt, zwischen ihren Füßen ein kleines Mädchen mit Zöpfen, wie ich sie einmal getragen hatte. Doch dann ließ es sich nicht mehr leugnen. Meine Hände schwollen, juckten und brannten rot.
    Am Sonntag legte ich sie alle paar Stunden in eine Schüssel mit kaltem Wasser, doch sobald ich sie der Luft aussetzte, fing
das beißende Jucken und Pochen wieder an. Die Großmutter machte mir einen Umschlag mit essigsaurer Tonerde, das war noch schlimmer.
    Beim Mittagessen konnte ich kaum mit Messer und Gabel umgehen.
    »Konns de denn nix Besseres finde?«, stieß der Vater zwischen zwei Bissen hervor, seine ersten Worte für mich seit unserem Gang an den Rhein.
    »Nä!« Das erste Wort von mir für ihn. Und für lange Zeit das letzte.
     
    Montagmorgens beim Griff nach den Tuben war mir, als steckten meine Hände in glühenden Futteralen. Kurz darauf schwollen sie wieder an, übersät mit roten Flecken, die sich unter dem Kittel bis hinauf zu den Ellbogen zogen. Mittags konnte ich kaum noch greifen. Ich brauchte das Geld. Ich machte die Klotür hinter mir zu und steckte die Hände in die Kloschüssel, zog die Spülung und ließ das Wasser über die Hände laufen; wartete bis der Kasten wieder voll war und zog erneut, ich spülte und zog, zog und spülte, bis die Pause herum war. Doch dann wuchsen auf den geschwollenen Händen die Flecken zu pfenniggroßen Beulen, und die erste Beule platzte mit einem beißenden Schmerz, fast erträglicher als dieses Jucken, das mich zu Pflückleistungen anspornte, die kein Refa-Mann für möglich gehalten hätte. Verstohlen wischte ich den eitrigen Schleim am Kittel ab. Eine zweite Beule ging auf, wieder musste ich wischen, ich kam aus dem Takt, der Tubenbaum glitt ungeplündert vorüber. Die Frauen murrten, die Springerin kam: »Was ist los?«
    Ich vergrub meine Hände in den Taschen.
    Ein Blick auf den Kittel genügte. »Feierabend«, sagte die Springerin trocken. »Schluss für heute.« Sie drückte einen Knopf. Die Bäume stoppten. Ich trat aus der Reihe der Arbeiterinnen, die Frauen vom Ende der Halle rückten eine nach der anderen einen Baum weiter nach oben, die Lücke, die ich hinterließ, schloss sich, als hätte ich nie dort gestanden. Meine Hände oder
die einer anderen, ob Hände aus Fleisch und Blut oder Finger aus Draht und Schrauben, egal. »Feierabend«, hatte die Springerin gesagt. Und der Werksarzt fügte hinzu: »Zinkallergie. Und zwar dritten Grades. Um Himmels willen, warum sind Sie nicht früher gekommen?«, entsetzte sich der Mann. »Das haben Sie doch nicht erst seit gestern.«
    »Geld, Geld, Geld«, hörte ich ihn murmeln, während er eine weiße Paste auftrug, meine Hände und Arme bis zu den Ellenbogen bandagierte. »Ich dachte doch, dass Sie vernünftiger wären als die Leutchen aus Sizilien und Kalabrien, die sich für Geld vermutlich die Finger abhacken ließen.«
    Ich schwieg und starrte auf das Fenster des sonnigen Zimmers,

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