Aufbruch - Roman
vorbei, durchs Schinderturmtor, Dorfstraße, Rathaus, Altstraße 2.
»Is he weg?«, fragte die Mutter, bequem in Kittel und Hausschuhen, der Couchtisch abgeräumt, auf normale Höhe gekurbelt und zusammengeklappt.
»Ja«, sagte ich. »Ich zieh mich nur schnell um.« Ich lief nach oben, hängte das Kleid in den Schrank, schlüpfte in Rock und Bluse.
»Is he nit en bissjen alt für disch?«
»Ach, Mama.« Ich stopfte die Bluse fester in den alten Leinenrock.
»Hier«, sie schob mir ein Schoko-Nuss-Stück zu. »Dat has de doch am liebsten. Du has ja jar nix jejessen. Jojo, de Aufrejung! Aber ne feine Mann. Nit esune Kääl wie dä vum Hannelore oder vum Birjit.«
»Ach, Mama«, seufzte ich noch einmal. Die Lebenslinien dieser Klassenkameradinnen von der Volksschule waren mir bislang als vorbildlich dargestellt worden: Schulabschluss, Friseurlehre oder Einzelhandel, Verlobung mit einem Maurer- oder Bäckergesellen. Beide hatte ich in den Augen der Mutter mit Godehard uneinholbar abgehängt.
»Hier«, die Mutter reichte mir den Kiesel, »den hat er verjessen.«
»Macht nix«, sagte ich. »Ist ja nur ein Stein vom Rhein.« Die Mutter schnaufte: »Dat reimt sich ja! Ja, wat sisch liebt, dat reimt sisch.«
Verschämt tastete sie nach meiner Hand neben dem Teller. Strich mit ihrem harten, rissigen Zeigefinger über das Schlänglein: »Is dä doch escht? Wirklisch escht?«
»Nä«, sagte ich, zog den Ring ab und warf ihn ihr zu. »Kanns de haben. Hab ich doch jesacht: aus dem Kaugummiautomat.«
Die Mutter hielt sich den Ring vor die Augen: »Von wejen Kaujummi«, sagte sie. »Dreimal die Neun steht do und HP. Dä is escht!«
Sekundenlang stand die Mutter in einem mattgrünen Alpakamantel neben einer vollautomatischen Waschmaschine in einem gekachelten Bad mit Wanne, Dusche, fließend warmem und kaltem Wasser.
»Pass jut op dr Ring auf!« Andächtig umfing die Mutter das Juwel mit ihrem Blick. Schaute noch einmal ins Ringinnere: »Komisch«, sagte sie, »do steht jo nur HP. Nur dein Name. In ne anständije Verlobungsring jehürt och der Name von dem Bräutijam!«
»Ävver wat he von der Schöpfung erzählt hat, dat war nit kattolisch«, murrte die Großmutter. »Jeheiratet wird kattolisch. Hier in Dondorf.« Sie mit ihrem besten Aufgesetzten einfach stehen zu lassen!
»Ach, Oma«, seufzte ich. »Wo is denn der Bertram?«
»Beim Toni. Hilft dene beim Packe. Die trecke no Pengste öm.« 27
»Und?«, fragte ich Bertram abends im Bett.
»Trübe Tasse«, war das knappe Urteil. »Aber ein netter Kerl.«
»Ja, was nun?«
»Beides.«
»Er kann ja nichts dafür.«
»Wofür?«
»Weiß ich auch nicht. Dass er ist, wie er ist. Ach, Bertram.«
Und dann tat ich, was ich seit unseren Kinderspielen, seit Frau Holle, Rotkäppchen, Brüderchen und Schwesterchen nicht mehr getan hatte: Ich schlüpfte zum Bruder ins Bett. Er roch nach Hefe und Rosinen wie der warme Stuten der Großmutter, roch nach Hänsel und Gretel, dem Knusperhaus. Warf mich dem Verdutzten an die verschwitzte Jungenbrust und heulte. Bertram hielt still, fragte nichts. Ich wurde ruhig. Plötzlich roch der Bruder nach Mann. »Schlaf gut.« Ich sprang in mein Bett zurück.
»Loch«, hatte Godehard gesagt. »Loch.« Das hätte er nicht sagen dürfen.
Wir hatten uns für den ersten Schultag nach Pfingsten beim Buchhändler verabredet. Beinah gleichzeitig trafen wir aus entgegengesetzten Richtungen an den Kisten zusammen. Ja, dem Vater gehe es besser, er habe ihm von seinem Besuch in Dondorf erzählt, ein wahres Kuckuckskind, habe der Vater gescherzt, sei ihm, Godehard, ja da aus dem Dondorfer Nest zugeflogen, und er habe dem Vater versprechen müssen, sich um mich zu kümmern. Gleich übermorgen könne ich zum Zahnarzt gehen, ein Kieferspezialist; er habe schon einen Termin für mich gemacht.
Wir hatten die Bank, unsere Bank im Stadtwald hinterm Ententeich, erreicht. Godehard zog mich an sich. »Und im Sommer geht es dann wirklich nach Rom. Ohne Eltern. Ich hab ihr Wort.« Er griff nach meiner Brust.
Ich löste mich von ihm, nahm seine Hand in meine: »Godehard«, sagte ich. »Es geht nicht.«
»Geht nicht? Also, wenn du willst, dass die Eltern mitfahren … Bitte sehr. Du bist ja wirklich noch jung. Aber ich meine es ernst. Zuerst Abitur - und dann: meine kleine Frau.«
»Godehard, darum geht es nicht. Es geht nicht! Verstehst du denn nicht! Mit uns beiden. Das geht einfach nicht. Du, du … du bist zu alt für mich!«
»Seit wann das
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