Aufbruch - Roman
hinten, als stünden mir die besseren Plätze nicht mehr zu.
Auf der Seite der Männer, nur eine Reihe vor mir, stand der Vater. Männer, das hatte mich schon als Kind beschäftigt, knieten weit seltener als Frauen, eigentlich nur bei Wandlung und Kommunion. Sie müssten die guten Hosen schonen, hatte Kreuzkamp mich einmal lächelnd beschieden.
Nach der Kommunion lichteten sich die hinteren Bänke, besonders auf der Männerseite erst zögernd, dann immer schneller. Kaum einer, der das Schlusslied noch abwartete. Auch der Vater nicht. Ich drängte ihm nach, vorbei an den Frauen, die sich unwillig an die Bänke pressten; knickste zum Altar und ließ die Stimmen hinter mir: »Jesus ist der beste Freund, der uns ewig treu verbleibet.«
Die Sonne war weitergewandert, ich schob mein Fahrrad in den Schatten. Männer standen in Gruppen unter den Linden - »Der hat doch nix ze sagen«, hörte ich, »und den kann man doch nit wählen«. Politisieren nannte man das zu Hause,
nix für unsereins. Der Vater hatte schon das Weite gesucht, aber wohin? Ich rannte um die Kirche herum, einmal und noch einmal, drei Abzweigungen führten zur Altstraße, der Vater nirgends zu sehen. Da entdeckte ich ihn. In der entgegengesetzten Richtung. Der Vater auf dem Weg an den Rhein. Die Kirchturmuhr schlug elf. Zeit genug bis zum Mittagessen.
Es war nicht schwer, den Vater einzuholen. Ein verkürztes Bein und seine Spezialschuhe machten seinen Gang zögerlich und ungelenk. Wortlos ging ich neben ihm. In den Ohren das Sausen der Pappeln schwoll an, schien das Schweigen zu sammeln und in Brausen umzuwandeln, bis ich es schließlich nicht länger aushielt und hinein in das Rauschen schrie: »Aber ich brauch doch das Geld!«
Als habe er nichts gehört, stapfte der Vater voran, schlackernd in seinen orthopädischen Schuhen. Die Narbe auf seiner Wange glühte, zuckte. Das hier war nicht der andere Vater, nicht der Vater aus Köln mit Silberarmband und Dom.
»Nä«, stieß der Vater zwischen den Zähnen hervor.
»Du kriegst doch alles wieder!«, rief ich aufgebracht, fühlte, wie meine Angst sich in Wut verwandelte. »Ich will doch nix geschenkt!«
»Kris de och nit.« Hörte ich wirklich Genugtuung in der Stimme des Vaters?
»Schade«, zischte ich und machte auf dem Absatz kehrt.
Drehte der Vater sich nach mir um? Ich tat es nicht. Hätte er mich gerufen, wäre ich stehen geblieben? Nein. Nicht mit diesem Gesicht, tränennass, Tränen, die mir den Hals hinabliefen in den runden Ausschnitt meines Sonntagskleids. Nie mehr, hatte ich mir vor Jahren geschworen, als der Vater mich zum letzten Mal geschlagen hatte, nie mehr sollte dieser Mann, sollte ein Mann mich weinen sehen.
Ich wusch mein Gesicht im Brunnen am alten Rathaus, schloss mein Fahrrad vom Pfosten und fuhr dem Vater nach. Er war schon auf dem Damm, und ich rollte ein stückweit neben ihm her, ehe ich mit einem falschen, kalten Lachen in die Pedale
trat, lachend an ihm vorbeischoss, den Damm hinunter an den Rhein, ans Wasser.
Im Holzstall holte ich den Lachstein hervor. Er sah mich traurig an, als wollte er sagen: so nicht.
Ob er wisse, woher der Vater sein kurzes Bein habe, fragte ich Bertram am Abend. »Nä«, knurrte der und warf sich im Bett herum. Er hatte andere Sorgen. Die Mathematik quälte ihn wie mich. Und er vermisste Toni, seinen Freund, der nach Freiburg gezogen war.
Monika zuckte nur die Achseln, als ich ihr anderntags eine verworrene Geschichte auftischte, die klarmachen sollte: Ich komme nicht mit. Fast schien es, als hätte sie damit gerechnet; nicht drei-, sondern vierhundertfünfzig Mark koste das Ganze, gestand sie. Da habe sie am Wochenende schon mal ein Mädchen aus der Nachbarschaft, eine vom Lyzeum, gefragt. Vierhundertfünfzig: So viel könne ich ja sicher nicht bezahlen.
War ich erleichert? Enttäuscht? Das vor allem. Besonders von mir. Dass ich mich nicht hatte überwinden können, das eine Wort herauszubringen: Papa. Und das andere: bitte.
Maternus lehnte mein Ersuchen um Ferienarbeit ab, ein Formbrief, derzeit kein Bedarf, gern könne ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anfragen. Doch wenigstens enthielt der Brief keinen Hinweis auf die Streikaktion vor Jahren, als ich die Frauen am Fließband zu frechen Sprechchören gegen den Prokuristen aufgestachelt hatte. Auch wenn ich weder nach Cornwall noch nach Rottenburg reisen würde. Ich brauchte Geld. Sofort.
Ich ging von meinen Beständen aus, erkannte die Lage, die Lage war ernst.
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