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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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knieten aufrecht und lächelten himmelwärts. Nie hatte ich versäumt, meinem Liebling eine Blume in die Armbeuge zu stecken. »Dat hätt jo noch nit ens Flügel! Dat is ja jar nit im Himmel!«, hatte die Mutter meine Vorliebe für die Schlummernde stets getadelt.
    Ich holte Wasser, die Mutter leerte die Gießkanne über Begonien und Wacholder, trat die Steckvase hinter dem Grabstein fest, und dann durfte ich die Kanne nach Hause tragen.
    Doch am Friedhofstor drückte ich der Mutter den Henkel in die Hand und rannte zurück. Zu den Kindergräbern. Zu der schwarzen kauernden Gestalt. Fasste mir ein Herz und sagte in den braungebrannten Nacken: »Guten Tag, Peter.«
    Die Gestalt zuckte ein wenig zusammen.
    »Tach«, brummte er, die Hand nach einem Kräutlein ausstreckend, das bei einem gepflegten Grab auch außerhalb der steinernen Einfassung nichts zu suchen hatte.
    »Wegerich oder Wegefreit«, sagte ich, auf seinen Handrücken deutend: »Plantago. Ich armes Kraut am Weg, / Ich steh hier ungebeten, / Muss auf mich lassen treten, / Wer Lust hat, flink und träg.«
    Noch immer sah Peter nicht hoch.
    »Die Wegeriche«, verlegte ich mich nun von der Poesie auf die Medizin, so, wie ich es vor Jahren von ihm gehört hatte, »die Wegeriche wurden früher für die wirksamsten aller Arzneipflanzen
gehalten, und schon Plinius der Ältere nennt sie als wichtigstes Mittel gegen Schlangen- und Skorpionbiss.«
    Unter meinem gelehrten Singsang richtete Peter sich langsam auf und wandte mir sein ebenmäßiges Gesicht zu. Treuherzig lächelnd schaute er mich aus seinen grünen Augen reglos an.
    Mein Herz setzte einen Schlag aus, blaugoldene Flämmchen von spiritus verde zuckten vor meinen Augen auf.
    »Peter«, sagte ich und streckte meine Hand aus. »Du bist ja allein!«
    Mit zwei erdigen Fingerspitzen ergriff Peter mein Handgelenk und schüttelte es, als befreie er einen Setzling aus seinem Topf.
    »Die Mama ist krank«, sagte er ausdruckslos. »Der Rücken. Sie kann sisch nit mehr bücken. Un jetzt muss isch alles allein tun.«
    »Peter«, sagte ich und streckte wieder meine Hand nach der seinen aus. Er umklammerte die Harke.
    »Ich will dir helfen!«
    »Du? Mir?« Peter wich einen Schritt zurück.
    »Ja. Ich.« Ich griff nach seinem Jackenärmel. Er ließ es geschehen.
    »Du musst mir helfen!«, versuchte ich es nun andersherum.
    »Ich? Dir?« Peter kam einen Schritt näher. »Das eben, das war aus meinem Buch. Hast du denn mein Buch noch?«, fragte er, und seine schönen Lippen zitterten ein bisschen.
    »Es ist mein liebstes«, antwortete ich, und das war kaum übertrieben. Peters Gesicht strahlte auf wie vor Jahren, als er am Rhein die Verse vom Bohnenfest des Horaz deklamiert hatte.
    Es machte mir Mut, dieses Strahlen, obwohl es dem Mädchen galt, das ich nicht mehr war.
    »Peter«, wiederholte ich in sein Strahlen hinein, »hilf mir.«
    Peter hockte sich auf die Grabkante und klopfte einladend neben sich. Die goldenen Buchstaben und einen Palmzweig der Familie Karrenbroich im Rücken, setzte ich Peter in angemessenem
Tempo meine Lage auseinander. Es dauerte, bis er begriff, was ich von ihm wollte: Arbeit. Und für die Arbeit Geld. Und als er es begriffen hatte, dauerte es noch mal so lange, bis er begriffen hatte, dass ich das dringend brauchte, Arbeit und Geld. Eine, die op de hühere Scholl ging, auf Du und Du mit den erlauchtesten Toten aller Länder und Zeiten, wollte in der Erde über Dondorfer Knochen buddeln.
    »Kanns de denn nix Besseres finden?« Peter kniff seine schönen Augen zusammen, als könne er so jeder Lüge Einlass verwehren.
    »Nein«, sagte ich verzweifelt und streckte ihm meine Hände entgegen, über und über mit roten Narben bedeckt. »In der Tubenfabrik kann ich nicht mehr arbeiten. Aber ich brauch Geld.«
    Peter seufzte. »Helfen kanns de ja. Aber Jeld? Dat macht doch alles die Mama.«
    »Dann frag sie«, drängte ich. »Oder soll ich sie fragen?« Peter nickte. Die schlaue Hilla Palm würde seine Mutter schon rumkriegen.
    Ich fing gleich mit der Arbeit an. Ein Großteil der Kindergräber war in einem erbärmlichen Zustand. Mit der Drohung, die Gräber einzuebnen, hatte die Gemeinde die Familien gezwungen, sie in Ordnung zu bringen. Unter einem grünen Dickicht waren die kleinen Rechtecke kaum noch auszumachen. Also erst einmal: raus mit Quecke, Giersch und Schachtelhalm.
     
    Vergeblich schaute ich nach dem Mofa aus, als ich mit Peter den Friedhof verließ. Er fuhr jetzt eine Vespa. Doch wie in alten

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