Aufbruch - Roman
Zeiten schwang ich mich hinter ihn und hielt mich mit beiden Armen an ihm fest. Er roch nach heißer Haut und sonnengetrocknetem Schweiß. Ich beugte mich seinem Rücken entgegen, bis ich die Hitze seines Körpers spürte. Näher kam ich ihm nicht. Näher war ich ihm nie gekommen.
Zu Hause sperrte Peter mir die Tür auf und machte sich in die Treibhäuser davon.
»Frau Bender?«, rief ich beherzt. Nichts hatte sich geändert, seitdem ich hier mit Apfelkuchen bewirtet und als Schwiegertochter in spe für gut befunden worden war.
»Wer is da? Kommen Se dursch.« Die resolute Stimme, mir nur allzu gut bekannt. Ich dachte an das kleine Schwarze und klinkte die Tür zum Wohnzimmer auf.
»Is wat passiert?«, fuhr Frau Bender hoch, dann mich schärfer ins Auge fassend: »Dat Heldejaad! Wat willst du dann he? Wo es dä Peter?«
»Im Treibhaus«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen, Frau Bender?«
Ächzend richtete Frau Bender sich auf, ächzend sank sie zurück. Sie sah erschöpft aus und älter, als ich sie in Erinnerung hatte.
»Siehs de ja. Isch komm nit mehr hoch. Die Bandscheibe, sacht de Mickel.« Frau Bender verzieh diese Frechheit weder dem Arzt noch ihrem Rückgrat. »Wenn et nit besser wird, muss isch unter dat Messer. Aber wie kommst du denn hierher? Schickt disch de Mama?«
»Nä«, sagte ich. »Mit dem Peter. Ich hab dem bei den Gräbern geholfen.«
»Du?« Das U in Frau Benders Mund wollte kein Ende nehmen. »Du?«, wiederholte sie und versuchte noch einmal, sich aufzurichten, vergeblich.
»Ja, ich«, sagte ich fest. »Ich brauche Geld.«
»Jeld?« Frau Bender lachte durch die Nase. »Dat brauche mir all. Un da frags de ausjerechnet bei uns?«
Welche Beweggründe Peters Mutter auch immer hinter meiner Bitte vermutete, ich war im richtigen Augenblick gekommen. Peter brauchte Hilfe. Arbeitskraft. Die konnte ich bieten.
»Eins dreißig die Stunde. Mehr is nit drin«, machte Frau Bender ihr Angebot.
»Eins fünfzig«, sagte ich.
Warum war es so viel einfacher, mit Frau Bender über Geld
zu reden als mit Frau Direktor Wagenstein, die für eine Bluse ausgab, was der Vater im Monat verdiente?
Wir einigten uns auf eins vierzig. Ich wünschte gute Besserung, Peter fuhr mich bis an Piepers Eck, vor das fassungslose Gesicht der Mutter, die dort stand und der Tante auf dem Fahrrad hinterherwinkte. Wenn die mich gesehen hätte!
Die nächsten Wochen hatten die Farbe Grün.
Die Krusten der Narben auf meinen Händen lösten sich, der dünnen neuen Haut tat die Erde wohl. Ich grub die Finger den Wurzeln entgegen, den Toten entgegen, aus Staub bist du, zu Staub kehrst du zurück, zu Grün sollst du werden, zu grünem Bewuchs auf der Erde Rücken, grüne Blüten und Blätter aus fettigem Wurzelwerk. Weiß und weitverzweigt die Wurzeln des Gierschs, ich ihnen verbissen hinterher. Anfangs schwenkte ich besonders langverwickelte Stränge triumphierend vor Peters Gesicht, doch der hatte wenig Sinn für die Art und Weise, wie ich seine Arbeit in ein Spiel verwandelte. Nur ihm zu Gefallen tat ich, als sei das Ganze hier eine Last. In Wahrheit frohlockte ich jeden Morgen, dass ich weder am Pillenband sitzen noch beim Tubenbaum stehen musste, im stickigen Dunst, im Lärm der Maschinen. Und wie gut es tat, Herrin der Zeit zu sein! Nichts und niemand trieb meine Hände zur Eile an, ich selbst war es, die ihnen die Bewegung diktierte, nützliche Bewegungen, sinnvolle Bewegungen, Bewegungen, von denen keine der anderen glich, Bewegungen, deren Folgen sichtbar waren, ursprüngliche Bewegungen, alt wie die Menschheit, alt wie das Tun von Adam und Eva, jäten und pflanzen, scheiden zwischen nützlichen und unnützen Pflanzen, ihre Schönheit begreifen, beider Schönheit, die Schönheit des Nützlichen wie des Unnützen, die Schönheit alles Geschaffenen.
Wie ich da über den Gräbern kauerte, den veruntreuten, verunkrauteten Gräbern, erfuhr ich die Offenbarung der Schöpfung noch in ihrem kleinsten Teil. In der vor Hitze vibrierenden Luft begriff ich, was Gott als Erstes hatte schaffen müssen: das Licht. Nur das Licht erlaubte Ihm, erlaubte mir, in diesen stillen Tagen zu erkennen, dass alles, was Er geschaffen hatte, gut war, bis in die letzte Wurzelspitze des Schachtelhalms. Die ich als Teufelswerk verfluchte, wenn sie wieder mal in der Erde stecken blieb. Die Schönheit des Unscheinbaren. Wenn wir nur genau hinsehen. Wie viele Seiten hat ein jedes Ding?, hatten wir den Großvater gefragt. So viele, wie wir Blicke für es
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