Aufbruch - Roman
gerade in den Anblick eines Odermennigs versunken, der Pflanze, die uns damals einander nahegebracht, beinah zu Verlobten gemacht hatte, da spürte ich Peters Blick. Verstohlen schaute ich zu ihm hinüber, sah einen schmerzlich entschlossenen Ausdruck in seinem Gesicht und wie er langsam den Kopf schüttelte, ehe er sich wieder seinem Erikabüschel zuwandte.
Manchmal saßen wir abends noch eine Weile auf der Bank vorm Leichenhaus in der Sonne und tranken den Rest vom Tee aus Peters Thermoskanne. Wir tranken aus einem Becher. Ich steckte die Hände in die Taschen der Hose, ein abgelegter Fetzen vom Bruder, streckte die Beine von mir und ahmte eine, die ihren Platz im Leben gefunden hat, meisterlich nach.
Die Dondorfer Frauen hatten ein neues Thema: Dat Kenk vun dem Rüpplis Maria mät met dem Benders Peter de Jräwer! Gerüchte flammten auf, erstarben, neue wurden ausprobiert. Die
Mutter, die Tante hielten mit der simplen Wahrheit dagegen, aber die interessierte keinen. Dat Kenk vum Rüpplis Maria war zuerst vun dr Papp geflogen, hochkant raus, hatte einfach nix kapiert von Soll und Haben. Et wollt ja immer hoch hinaus; Meddelscholl 31 noch nit jenuch. Dann op et Jimnasium! Un och noch op en jemischtes. Un wo is et jelandet? Op dem Kerschhof! Hätt et dofür jeliert 32 ? Oder is et am Äng widder henger dem Peter her? Dä hätt jo nit vell em Kopp, ävver jenuch an de Föß. Jonge, Jong. Dat Weet 33 es raffiniert! Wo et met dem andere nit jeklappt hät.
Peter schien das alles kaum zu bemerken und wenn, so focht es ihn nicht an. Ohnehin kam er immer öfter nur morgens, um im Schatten hinter der Leichenhalle die Kisten mit den Pflanzen abzustellen. Mir gab er dann einen Zettel, welches Grab ich womit zu bestücken hätte, wo zu hacken, zu gießen, zu jäten sei.
Der Sommer blieb heiß und trocken, mitunter ging ein Sturzregen nieder, Ausläufer ferner Gewitter, dann wölbten sich manchmal die heiteren Farben eines Regenbogens hinter der Scheune auf Karrenbroichs Weide. Meist aber vibrierte die Luft vor Hitze, mittags schwirrten Myriaden von Insekten, die, sich aus dem Komposthaufen fortwährend neu erzeugend, in dunklen Schwaden an die Gräber schwärmten.
Heute war das Familiengrab der von Kilgensteins herzurichten, ein nach Australien ausgewanderter Spross der Sippe würde in den nächsten Tagen Dondorf besuchen. Das mochte Peter nicht mir allein überlassen, und so hockten wir wie in unseren ersten Tagen wieder nah nebeneinander. Nicht ein Mal hatte er mich nach der Fahrt zu seiner Mutter auf seine Vespa eingeladen, auf seine Vespa nicht und auch sonst nirgendwohin. Dabei bewies ich ihm doch mit jedem Stiefmütterchen, jeder Begonie, die ich flink und geschickt platzierte, dass auf mich Verlass war, dass es das Mädchen mit schwarzen Kleidern und grünen
Schnäpsen nicht mehr gab, dass »Gallia est omnis divisa in partes tres«, Sinus und Cosinus, der Faraday’sche Käfig meinen Alltag ausmachten. Doch vielleicht verschloss gerade das ihm den Mund. Da konnte ich noch so akkurat zwölf Sommerastern rhombenförmig anordnen.
Der Tag war heißer als die vorangegangenen, ein Gewitter hing in der Luft, die Insektenschwärme überm Wacholder so dicht, dass man kaum zu atmen wagte. Wir machten früher Schluss, räumten die Geräte zusammen - Gärtnerei Bender durfte einen Verschlag hinter der Kapelle nutzen - und setzten uns auf die Bank bei den Honoratiorengräbern, um endlich unsere Brote zu essen. Zufrieden betrachteten wir das Kilgenstein-Grab. Von immergrünen Ranken besänftigt, brannten die Farben der roten und gelben Begonie in der Sonne, das Familienwappen mit weißen und blauen Stiefmütterchen nachgebildet. Es war gut, zu sehen was man getan hatte, vor Augen zu haben, wo die Zeit geblieben war, unsere Hände hatten etwas ins Sichtbare befördert, etwas Wirkliches geschaffen, eine Form gestaltet; aus ein paar Pflanzen, die einmal nichts als ein paar Samenkörner gewesen waren, hatten wir Schönheit gemacht. Dagegen all mein Lesen, all mein Lernen, all mein Wissen: unsichtbar, wie nicht und nirgends vorhanden. Spurenlos. »Ich bin meine Freiheit«, diesen Satz von Sartre hatte sich das schwarzgefärbte Mädchen Hilla damals in sein Heft Schöne Wörter, schöne Sätze notiert. »Ich bin meine Spur«, ging es mir hier angesichts des blühenden Zeugnisses meiner Arbeitskraft durch den Kopf. Ich bin meine Spur. Ich bin mein einziger Beweis, das einzig Sichtbare meiner unsichtbaren Bemühungen. Gallia est
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