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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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beim Eingang, ruhten Pastoren und Honoratioren, dahinter Beamte, Handwerker, Angestellte, Arbeiter; Ehepaare hatten den Vorrang vor Einzeltoten, wer zu Lebzeiten keinen abgekriegt hatte, schleppte den Makel mit in die Ewigkeit; Ledige lagen hinter den Kindern, aber vor den Russen an der Hecke. Gräber besuchte man wie Sehenswürdigkeiten. Diskutierte, ob sie fleißig gepflegt wurden und von wem, ob mit Lichtern bestückt und mit Sträußen geschmückt; wer von wem die Gießkanne borgte, ob ein Gesteck noch bleiben konnte oder weg damit. Wie die Luchse hatten Bertram und ich als Kinder die Gräber gemustert, ob eine Hand herauswüchse: Daran sehe man, ob der Tote jemals die Hand gegen die Eltern erhoben habe.
    Schweigend ging ich neben der Mutter, vorbei an den großen Gemeinschaftsgräbern der katholischen Geistlichkeit. Dem Guten Hirten war der Stab weggebrochen, die Hand hing abgeknickt, nur noch von einem rostigen Drahtseil gehalten, ins Leere. Sonst versäumte die Mutter nie, diese Verlotterung zu beklagen. Diesmal würdigte sie den Verstümmelten keines Blickes. Hastete vorbei am »Grab der Barmherzigen Schwestern in der Genossenschaft der armen Dienstmägde Jesu Christi«, wo ich stehen blieb und die Bilder aufsteigen ließ aus Kindergartenzeiten.
    Aniana, die Kinderschwester, mit zweiundsechzig Jahren gestorben, Josefine Hütgen war sie »in der Welt« gewesen, als habe sie mit dem heiligen Namen, dem Namen der armen Dienstmagd, diese Welt bereits verlassen. Doch zu meinem Glück war sie sehr irdisch geblieben, die kleine, dralle, wieselflinke Person, die mich begleitet hatte wie ein Schutzengel.
    Heute wölbte sich ein frischer Hügel zwischen den Steinplatten. Ich zog die hitzesteif knisternde Schleife unter dem bescheidenen Kranz hervor: Bertholdis, »in der Welt« Magdalena
Furth, war vor wenigen Tagen gestorben, Bertholdis, die Schwester aus der Nähstube, die der kleinen Hildegard, mehr als alle anderen Schwestern, Respekt, wenn nicht Furcht eingeflößt hatte. Nun lag sie da, unter verdorrendem Immergrün in ihrem langen weißen Leinenhemd.
    Die Mutter kam noch einmal ans Schwesterngrab zurück. »Jo, dat Bertholdis is tot«, sagte sie. »Vorige Woch schon. Et Häz. Et hätt all dat Durschenander nit mi usjehale. Dat se dä Kinderjarten abjerissen haben un die Nähschul. Et wollt ja auch keiner mehr nähen lernen jehn bei der.« Die Stimme der Mutter bebte in verhaltener Lust. Lust am Leid, an der Bestätigung: Die Welt ist schlecht. Ihr Kopf ein Archiv für Missgeschicke aller Arten, vom Loch im Strumpf bis zum Loch im Kopf. Ihr Blick auf die Welt war ohne Hoffnung. »Freu desch nit ze fröh«, wie oft hatte ihr verdrossenes Misstrauen mir jede Vorfreude vergällt. Lief es trotzdem gut, nahm sie das dem Schicksal beinah übel.
    Am Karfreitag war sie in ihrem Element. »O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz, bedeckt mit Hohn«, frohlockte sie über die schleppenden Stimmen der Gemeinde hinweg, Genugtuung in jeder Silbe. Mag sein, sie hielt die Auferstehung für eine Art Sondervergünstigung, für ein Privileg, so, wie Brauereibesitzer Küppers nach Amerika, konnte Gottes Sohn in den Himmel fliegen. Nix für kleine Lück.
    Niemand, so die Mutter, habe noch etwas von Schwester Bertholdis gewollt. Und die Wäsche habe sie ja nicht mehr machen können, wegen der Aller, Aller …
    »Allergie«, warf ich ein.
    »Ja, wegen de Händ«, fuhr die Mutter fort, »so wie bei dir.« Immer ganz rot und geschwollen, sobald sie mit Waschpulver in Berührung gekommen sei, und mit allem, was mit Waschpulver gewaschen worden sei. Schließlich habe die Allerjie auf den ganzen Körper übergegriffen, und am Ende sei die Schwester »am Jöcke jestorwe. Dat war ne Erlösung.«
    Ich sah mich um. Der frühe Nachmittag tauchte das Gräberfeld in ein hartes, isolierendes Licht, das die Grabstätten
voneinander trennte, jedes einzelne Ding mit beinah bedrohlicher Intensität vom anderen abschnitt. Ein Licht, das die Sinne schärfte und verwirrte. Sogar die Gerüche in dieser Glutluft waren klar und elementar; unvermischt stand der heiße Atem von Tagetes und Wacholder neben der süßlichen Verwesung welkender Blumen und Kränze vom Kompost bei den Russengräbern. Der Friedhof menschenleer, bis auf eine schwarze Gestalt, die bei den Kindergräbern kauerte.
    Wehmütig sah ich zu meinem Engelchen hinüber, das, den Kopf auf die Hand gebeugt, schlafversunken lächelte. Es war das einzige dieser Art. Alle anderen hatten Flügel,

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