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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Putzlappen auf Knien die Wände entlangkroch, gegen den täglichen Staub-gib-uns-heute auf Linoleum und Fußleisten vorging, wobei sie die Ecken, den Zeigefinger ins feuchte Tuch gespitzt, besonders sorgfältig traktierte. Schließlich, beide Hände ins Kreuz drückend, richtete sie sich auf, um den Lappen erneut in den Eimer zu tauchen, auszuwringen und sich mit frisch getränktem Werkzeug ächzend unter Finkes Schreibtisch zu schieben, dorthin, wo er tagsüber Socken und Sandalen auslüften ließ. Dort begann die Mutter zu schrubben, die Handflächen auf den Lappen gestützt, die Unterarme, vor und zurück, aus den Ellenbogen heraus, vor und zurück, dann mit durchgestreckten Armen aus den Schulterblättern heraus, vor
und zurück schrubbten Hände, Ober- und Unterarme, vor und zurück, um die Schubkästen herum, um den Chefsessel herum, um jeden einzelnen der vier Massivholzkugelfüße rundherum. Schrubben. Schrubben. Schrubben. Ich versuchte, das Wort in meinem Kopfe kreisen zu lassen, beruhigend wie ein Schlaflied für Kinder. Vergebens. Schrubben blieb Schrubben, und die Mutter unter dem Schreibtisch des Ortskassenleiters der AOK wandte mir im blauen Arbeitskittel den Hintern zu.
    Die Faust um mein Herz ließ sich nicht von Wortschällen lockern. Es tat weh, die Mutter auf Knien über den abgewetzten Linoleumboden durch die Kasse rutschen zu sehen. Doch zu sehen, wie sie am Ende dastand, sich das Kopftuch abband und damit den Schweiß von der Stirn wischte, den Putzlappen in den Eimer warf, sich die Hände am Kittel abstreifte und wieder in die Hüften stemmte, so, wie sie es vor dem Holzstall bei ihrer Einladung an mich getan hatte: Das schmerzte noch mehr. Es schmerzte der Gesichtsausdruck der Mutter, dieser Ausdruck innigster Befriedigung, mit dem sie die Augen über ihr Werk, das Werk zweier Stunden, schweifen ließ, der unverhohlene, rechtschaffene Genuss an spiegelblank gewienerten Tischoberflächen, millimetergenau arrangierten frisch gespitzten Bleistiften, frisch abradierten Gummis, exakt gestapeltem Papier, Aktenordnern in Reih und Glied. Alles, wie sich’s gehört. Und nichts davon gehörte ihr. Wer nahm hier Arbeit? Wer gab sie? Eine Traurigkeit ergriff mich, wie ich sie nicht mehr gespürt hatte, seit Rosenbaum fortgezogen war. Dass die Mutter nichts anderes hatte für ihren Stolz als einen sauber geputzten Schalterraum, gegen diese Traurigkeit hatte der Lehrer mir keinen Rat gegeben. Diese Traurigkeit war schlimmer als Wut. Sie machte mich schwach, weich, hilflos.
    »Siehs de«, sagte die Mutter und schlüpfte aus dem Kittel. »Alles pickobello! Wie jeleckt! Jo, isch lass mir nix nachsagen!«

    Keine Arbeit: Das trieb mich um. Was auch immer ich zu lesen in die Hand nahm, irgendwann musste jedes noch so herzzerreißende Schicksal aus den Buchseiten der Frage weichen, wie ich an Geld kommen könnte. Öfter als sonst hielt ich mich zu Hause auf, und als sich die Mutter zum Friedhof aufmachte, ging ich mit. Erfreut war sie nicht.
    »Has de schon wieder nix Besseres vor?«, fragte sie nur. Wortlos griff ich nach der Gießkanne, doch die Mutter riss sie mir aus der Hand, als wollte ich sie berauben. »Mal jespannt, wen mer heute auf dem Friedhof treffe«, sagte die Mutter, Vorfreude in der Stimme.
    »Jib mir doch die Kanne«, sagte ich, aber die Mutter hielt sie fest umklammert.
    »Has de wat von dä Ruppersteger gehört?«, versuchte ich die Mutter auf eines ihrer Lieblingsthemen zu bringen.
    »Nä«, sagte sie kurz.
    »Und die Rüppricher?«
    »Nix.«
    »Aber vom Großenfelder Berta gibt es doch bestimmt Neues? Is die noch im Krankenhaus?«
    »Nä.«
    »Nä, drinnen oder draußen?«
    »Draußen!«
    Die Großenfelder Chaussee wurde verbreitert. Kreissägen schnitten mit schriller Ungeduld in die alten Stämme. Karrenbroichs Kühe muhten erregt und drängten die Köpfe zusammen. Auch sie würden bald von hier verschwinden. Weide und Obstplantagen waren Bauland geworden.
    »Wills de dann nit mehr arbeiten jehn?«, schnaufte die Mutter.
    »Doch«, sagte ich. »Aber ich find nix.«
    »Frag doch mal op dr Papp. Do kenne sie disch doch schon.«
    »Nä«, sagte ich.
    »Du kanns doch hier nit sechs Woche lang erömlungere!«, schrie die Mutter in das Kreischen der Säge und schwang die Harke gegen die Männer in den Bäumen.

    Ich zuckte die Schultern, und der Ort der ewigen Ruhe brachte auch die Mutter zum Schweigen.
    Im Dorf der Toten lag man, wie man sich im Leben gebettet hatte. In der ersten Reihe, nahe

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