Aufbruch - Roman
sei er, Buche, an Godehards Erscheinen bei den Kisten nicht gewesen. Nach dem Tod des Mädchens habe er Godehard nie wieder lachen sehen - bis er mich getroffen habe. Der Godehard sei doch so ein lieber Mensch. Gar nicht eingebildet. Und wie ernst er sein Studium nehme. Wolle ja auch auf keinen Fall das Erbe der Keuken-Werke antreten, das überlasse er seinem Bruder. Er, Godehard, wolle an der Uni bleiben. Grundlagenforschung. »Ich habe geglaubt, er würde auch Ihnen gefallen«, schloss Buche seine Beichte.
Während Buche sprach, hatte ich das Päckchen zweimal auf den Tisch zurückgelegt, wollte nichts mehr damit zu tun haben. Jedesmal nahm ich es wieder auf. Sauer lag mir der Kaffee im leeren Magen. Drei Jahre älter als ich war stud. phil. Annemarie Weidenkötter gewesen. Nun, da ich ihren Namen las, war die Ähnlichkeit mit der Toten schon nicht mehr so bedrohlich; Name, Daten, Adresse rückten sie von mir ab in ihre eigene Wirklichkeit. Nur ansehen durfte ich sie nicht. Und nicht an Godehard denken. An seinen Mund, seine Hände auf meiner Haut. Mund und Hand hatten einer Toten gegolten. Nicht mir. »Meine kleine Frau.« Nicht mich hatte er damit gemeint, nicht mit mir die Reise nach Rom geplant, nicht mich hatte er angelacht, sondern das Gesicht der Toten durch meines hindurch. Ersatz war ich gewesen, zweite Wahl, Fußballer von der Bank, der ran darf, wenn einer ausfällt.
Aber meinen Namen hatte er doch gesprochen, meinen Namen, Hilla, hatte er gesagt, mir ins Haar geküsst, den Nacken, die Kehle hinauf und hinunter, Hilla. Hildegard Elisabeth Maria Palm, hatte er mich seinen Freunden vorgestellt, unter dem Schutz meiner ganzen langen Heiligennamen. Etwas in meiner Brust knallte gegen die Rippen, schnelle, harte Schläge, wie sie der Vater tat,
wenn er im Schuppen Schuhe mit Eisenspitzen versah, knallte wie die eisernen Ringe, die vom Herzen des treuen Heinrich platzten, als sein Herr sich vom Frosch zurück in einen Prinzen verwandelte. Eiserne Reifen ums Herz. Da konnte ich nur lachen. Lass nicht zu, dass einer deine Geschichte schreibt. Godehard hatte meine Geschichte nicht nur schreiben, er hatte sie umschreiben wollen. Zur Geschichte einer anderen. In ein abgetanes Leben hatte ich schlüpfen sollen wie in ein abgetragenes Kleid.
»Ich, ich muss gehen.« Ich schüttelte Buches Hände ab. »Ich muss fort.« Einen Augenblick glaubte ich, der Buchhändler wolle mich gewaltsam zurückhalten, so hart krampften sich seine Finger in meine Schultern. Ich schnappte meine Tasche und stieß die Tür auf.
»Halt, Fräulein Palm.« Buche vertrat mir den Weg, aber er fasste mich nicht mehr an. »Hier, das haben Sie vergessen.«
Hatte ich nicht. Doch ich wagte keinen Widerspruch, wollte nur noch weg und riss dem Mann Godehards Päckchen aus der Hand. Etwas rief er mir noch hinterher, das wie »bald« und »Wiedersehen« klang.
Bertram war nicht zu Hause. Ich schlang mein Essen hinunter, machte, dass ich in meinen Holzstall kam. Wie harmlos war meine Erfindung verliebter Ferientage gegenüber dieser Geschichte. Geschichte? War, was man selbst erlebte, eine Geschichte? So, wie in Büchern? Ja. Ich würde diese Geschichte aufschreiben. Meine Geschichte. Erzählen würde ich sie keinem. Erzählen würde ich weiterhin von Erkki Huusarii.
Ich legte das geheimnisvolle, schmiegsame Päckchen vor mich auf den Tisch. Unter dem dünnen Papier fühlte ich etwas, weicher als Pappe, härter als Tuch. Behutsam, das hatte ich von der Großmutter gelernt, zog ich das Seidenpapier auseinander, faltete es zusammen. Unter dem Papier war - Papier. Xerokopien! Während sich alle Welt noch mit Durchschlägen und Matrizenabzügen quälte, hatte das Keuken-Unternehmen natürlich schon diese neue Technik. Ich kannte das Photo, auf dem
eine starkgelockte junge Frau im Hemdblusenkleid - offenbar die Uniform der berufstätigen Frau, dieses Mittelding zwischen hausarbeitlichem Kittel und müßiggängerischem Kleid -, die Rechte fingerspitz auf einen hüfthohen Kasten, die Linke fast zärtlich auf ein kleineres Gehäuse lehnte, dem ein DIN-A4-Blatt entquoll: die Xerokopie. Kannte die Werbung aus meiner Bürozeit. Frau Wachtel hatte das Verfahren, die Xerographie, verächtlich beschnaubt; doch auch Angst lag in der Ablehnung dieses Apparats, der so viel schneller war als die beste Sekretärin. Aber Kaffee kochen, nein, das konnte diese Xerox 914 nicht, hatte sie sich beruhigt.
The Journal of the Society for the Bibliography of Natural
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